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Category — Literatur

Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück. Ein weiterer Auszug

In diesem Buch schreibt die Goritschewa über ihre Begegnungen mit dem Glauben in vielen verschiedenen Ländern, die sie bereist hat. Im Dezember 1987 war sie in Nepal – dazu schreibt sie:
>> Eine Sache ist es, über Ahimsa zu lesen, und die andere ist es, dies mit eigenen Augen zu sehen: Die Menschen und die Tier hassen einander nicht. Ohne Streit überlassen sie einander den Platz unter der Sonne – wie heilsam das ist. Bei uns im Christentum empfinden nur die Heiligen und die Gottesnarren die Tiere auf diese Weise.Aber das Christentum ist doch nicht schlechter als der Hinduismus! Es gibt doch auch in unserer Tradition den Aufruf zur kosmischen Liebe, zum Mitleid. Warum ist bei uns das „liebende Herz“ in Vergessenheit geraten, das liebende Herz, das mit jedem Geschöpf mitfühlt und weint? Die heiligen Väter schreiben, dasss der Mensch im Paradies Herrscher, Prophet und Priester für alle Tiere war. Warum ist er heute zu einem so schamlosen und stumpfsinnigen Parasiten der natürlichen Welt geworden? [Diese hochaktuellen Zeilen wurden 1987 bereits geschrieben. Tatsächlich hat sich die Goritschewa in ihren späteren Jahren und nach ihrer Rückkehr nach Russland sehr stark und schwerpunktmäßig mit Ökologie und Bewahrung der Schöpfung beschäftigt.]
Denken wir an die kosmische Liturgie des heiligen Makarij des Großen und des heiligen Maximus Confessor. Haben wir weniger Grund als die Hindus, barmherzig zu sein? Oder weniger Anlass, die Idee der Kirchlichkeit auf kosmische Weise zu verstehen? Nicht einmal auf dem Basar hört man hier grobe Schreie. Und wenn in dem engen Raum einer mittelalterlichen Gasse zwei Kastenwagen aufeinanderstoßen, so werfen sich ihre Fahrer keine Schimpfworte an den Kopf, sondern sagen: Wir wollen denken, dass unser Zusammenstoß nicht wirklich war. Das ist der Schleier der Maja. Eine Harmonie zwischen Menschen verschiedener Herkunft [in Nepal gibt es eine Vielzahl von Nationen], zwischen Menschen und Tieren – das muss man erleben, eine Welt ohne Angst und Drohung. Schlafe ich wirklich nicht?<<

September 15, 2023   1 Comment

Tatjana Goritschewa – scharfe Kritikerin der deutschen katholischen Theologie

Ich lese zur Zeit ihre Werke – sie war eine zum Glauben gekommene russische Philosophin – und habe gemeinsam mit einer lieben Freundin, die mit ihr befreundet war und in engem Briefwechsel stand, einen Artikel über sie für die kommende Ausgabe des Vatican-Magazin geschrieben. Dass die osteuropäischen Dissidenten aus der Zeit des Kalten Krieges heute praktisch aktueller sind denn je, hat ja bereits Rod Dreher in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch „Lebt nicht mit der Lüge!“ festgestellt. Die folgende Passage aber hat mich aufhorchen lassen. Sie stammt aus ihrem Titel „Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück“:

„Die Zeit liegt lange hinter mir, als ich an einer theologischen Hochschule in Deutschland [Anm. BW: Sankt Georgen in Frankfurt] studierte und die Erfahrung machen musste, dass da mehr über Gott gelacht wurde, als dass man, von seiner Größe und Herrlichkeit ergriffen, seine Wirklichkeit verkündet hätte. … Ich fahre auch schon lange nicht mehr auf theologische oder exegetische Tagungen, wo etwa selbstzufriedene modernistische Exegeten mit gelehrter Miene beweisen wollen, dass es den „Stern von Bethlehem“ nie gegeben hat (interessant genug, woher sie das so genau wissen) und dass selbst „Bethlehem“ nie existiert hat. … „Dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, das haben sich doch die Evangelisten nur ausgedacht. Eine ergreifende Unwahrheit, wollten sie doch nur, dass die alten Prophezeiungen in Erfüllung gehen.“ Und weiter erzählte man uns, dass Isaak älter als Abraham war und folglich nicht sein Sohn sein konnte und dass es natürlich auch das Opfer des Abraham nicht gegeben hat.
Eine schreckliche Erinnerung habe ich an eine Versammlung, bei der die Teilnehmer überwiegend katholische Priester waren. Als ich von der Wichtigkeit des Kreuzes sprach („Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach“) stürzten sie sich auf mich wie auf eine Verbrecherin: „Das ist doch Masochismus.“ „Das Kreuz kam im Christentum erst sehr spät auf, die ersten Christen kamen auch ohne Kreuz aus“, so hielt man mir entgegen – aber die ersten Christen wurden eben auch gekreuzigt, deshalb brauchten sie das Symbol des Kreuzes nicht. …
„Was ist dann, Ihrer Meinung nach, das Ziel des christlichen Lebens?“, fragte ich diese gelehrten Männer. Eine Antwort: „Das Ziel ist, dass die ganze Gemeinde reich und gesund ist.“ Welch Primitivismus, welche Abgeschmacktheit! So weit sind nicht einmal die Bolschewiki heruntergekommen. Denn die Kommunisten möchten Reichtum und Gesundheit für alle, nicht nur für sich selbst. Und doch waren das keine dummen Leute, die das gesagt hatten. Im Gegenteil, an sich waren diese kirchlich bestallten Ausleger des Wortes Gottes sympathische, gebildete Menschen, die ihren Nächsten Gutes wünschten. Nur beten konnten sie überhaupt nicht (obwohl, wie gesagt, fast alle Priester waren). Die meisten sagten, dass die „Periode des Gebets“ bei ihnen schon weit zurückliege. Während eines äußerst kurzen „Gottesdienstes“, der diese Bezeichnung kaum verdiente [okay, alles, was unter zwei Stunden dauert ist kein Gottesdienst aus orthodoxer Sicht 🙂 – Anm. BW], erhellte sich das Gesicht nur bei einer alten Frau „aus dem Volk“, die sich zufällig dort eingefunden hatte. Die übrigen aber saßen wie vorher schon mit kalten und gleichmütigen Mienen da, als ob da irgendein Tagungsgeschehen abliefe.
Nach solchen „Konferenzen“ werde ich für gewöhnlich physisch krank […]“

Soweit die Goritschewa. Und es hat sich in 40 Jahren nix geändert, denn exakt so lief eine Präsenzveranstaltung des „Fernkurs Theologie Würzburg“ vor ein paar Jahren ab. Der Dozent erzählte uns genau dasselbe zu Bethlehem, Priester nahmen jedoch nicht teil. Und ich war die einzige Frau, die gegen Frauenweihe war.
Ich habe was mit Goritschewa gemeinsam. Das hat mich gefreut. Ja, und die alten Frauen „aus dem Volk“ sind es hüben wie drüben, die für ihre Kirche alles täten und auch tun.

September 14, 2023   No Comments

Todestag meines lieben Großonkels

Heute ist – irgendwie passenderweise – auch noch der Todestag meines lieben Onkel Ernst.

Onkel Ernst war ein WK II-Veteran, wie man kaum einen findet.

Ich poste heute erneut meinen Nachruf aus seinem Todesjahr:

R.I.P., Großonkel Ernst
Du hast zu deinem letzten Sprung angesetzt – und ich bin mir gewiss, dein Fallschirm ist aufgegangen und hat dich weich und sicher in der Hand des guten Gottes landen lassen.

Du warst ein tapferer Kämpfer, der, 1921 geboren, fast alle deutschen Fronten des Zweiten Weltkrieges kennengelernt hat. Du hast Operation Merkur über Kreta, als einer von wenigen, überlebt, du warst vor Leningrad, in Tobruk, in Rom, und ganz zum Schluss auch noch in der Normandie, über diese Schlacht hast du nie geredet, es war die Schlimmste von allen für dich – viele tote Kameraden hast du begraben müssen, aber dein Herz war so groß, dass du auf Kreta noch das Leben eines an Malaria erkrankten Bauernjungen retten konntest. Das Wiedersehen mit dessen Familie nach 65 Jahren auf Kreta hast du, wie es sich gehört, mit Strömen von Rotwein tagelang feiern dürfen – und bist dafür sogar ins griechische TV gekommen. Die Griechen mochten dich, sie haben gewusst, du warst kein Nazi – nur ein Wehrmachtssoldat, der soviel Courage hatte, vom deutschen Sanitätsdienst die Herausgabe von lebensrettenden Medikamenten für diesen Jungen zu erzwingen. Im kretischen TV würdigte man dich als „den Fallschirmjäger, dessen menschliche und herzliche Tat mit Blick auf die Völkerverständigung nicht hoch genug eingeschätzt werden könne“.

Dem lieben Gott hast du versprochen, wenn er dich heil nach Hause kommen lässt, dann wirst du jeden Sonntag den Gottesdienst besuchen – und du hast deinen Eid gehalten, bis du nicht mehr konntest und pflegebedürftig wurdest, liebevoll versorgt von deiner Tochter und Schwiegertochter und all deinen Angehörigen.

In einem Artikel über Posttraumatische Belastungsstörungen, Militärseelsorge und die Hilfe des Glaubens für „Die Tagespost“ im Dezember 2013 habe ich dich einmal zitiert, du hast mir damals eine beeindruckende Antwort und ein wahres Glaubenszeugnis auf meine Frage gegeben, wie du den Zweiten Weltkrieg halbwegs psychisch überstehen konntest:

>>Grausame Schlachten: Kreta, Russland, Afrika, Italien und zum Schluss Frankreich – die Normandie! Die bitterste Schlacht meiner Kriegsjahre. Vielen Kameraden musste man für immer die Augen schließen, in fremder Erde zur Ruhe betten. Immer nach den bitteren Schlachten dankte ich meinem Vater im Himmel für seinen Beistand, der mich noch heute täglich begleitet.<<

Und nebenzu hast du immer Gedichte geschrieben, Heimatgedichte über die schöne Südpfalz vor allem, aber auch eines, an dem du eine Frage an deine Kameraden – und an deine Feinde formuliert hast, die an dieser Stelle noch mal ihren Platz finden soll – denn wie jeder vorbildliche und echte Soldat warst du zwar ein zäher Kämpfer, aber dabei von ganzem Herzen gegen den Krieg.

Wherefore – von Ernst Daum

Wherefore, my friend, we’re fighting here
this bloody battle, tell me, what
we are killing for – dishonour rules wherefore
The enemy – a man like me, began his life like you’d begun
remember, friend, a loving mother’s beloved son.
How many killed on battlefields are never to come home
to kiss again their mother’s cheeks, their wife’s lips and sister’s brow?
Instead of this they’re staining now
the fighting grounds
with purple blood of theirs
and as you listen you may hear
the begging pleading crying
and sometimes, friend,
the silent sound of praying.
My buddy soldier, are you thinking now how this will end for us?
Wherefore, my friend?
Let us accuse this slaughter fury hell
But even more, let’s take a stand and pray,
there’ll come a day, our children, friend,
will realize that battle’s but a stupid word
for silly games they used to play.

PS: Sein Todestag liegt einen Tag vor dem Jahrestag der Befreiung von Leningrad …

Und jetzt gehe ich eine Kerze für ihn anzünden an seinem Grab.

Januar 26, 2023   No Comments

Eine liebe Widmung aus Kriegszeiten

Da ich mal wieder am Aussortieren bin, fiel mir ein zerfleddertes, stockfleckiges Buch in die Hände, Rüttgers „Götter und junge Helden“, darin folgende Widmung:

Soweit ich es entziffern kann, steht da Folgendes:

Meiner kleinen Freundin Helma [meine Mutter] eine kleine Erinnerung an unsere gute Kameradschaft und als Dank für eine liebe Puppe, die mir Glück bringen soll.
Fränzli [?] (ein Fallschirmjäger auf Himmelfahrt), 9. Februar im 6. Kriegsjahr

Wenn ich richtig gezählt habe mit den Kriegsjahren (1939 – Jahr 1), stammt die Widmung also aus Februar 1945, damals war meine Mutter 11 Jahre alt.
Ich weiß nicht, was aus Fränzli, wenn ich seinen Namen richtig entziffert habe, geworden ist. So oder so, er wird nicht mehr am Leben sein. Ich hoffe so sehr, die Puppe hat ihm Glück gebracht.
Ich habe das übrigens als Hinweis verstanden, dass die Kameradschaft zu Fallschirmjägern offensichtlich in der weiblichen Linie dieser Familie genetisch angelegt zu sein scheint.

🙂

Dezember 7, 2022   No Comments

Virginia Woolf und Dostojewski

Seine Werke seien „ein brodelnder Whirlpool, kreiselnder Sandsturm und Wasserhosen, die uns aufsteigen lassen, weichkochen und sich uns einverleiben. Sie sind völlig aus dem Stoff der Seele gemacht. Gegen unseren Willen werden wir hineingezogen, herumgewirbelt, erstickt und gleichzeitig mit schwindelerregender Entrückung erfüllt.“
[Virginia Woolf]

Oktober 15, 2022   No Comments

Russische Gottesnarren

Hier also mein Essay im Feuilleton der Tagespost über die russischen Gottesnarren.

Mai 2, 2021   No Comments

Der Traum der Claudia Procula

Lektüre für die Karwoche – im Evangelium nach Matthäus steht ein einziger Vers, der auf die Frau des Pilatus hinweist. Sowohl auf ihre Existenz als auch auf den schlechten Traum, den sie wegen des bevorstehenden Prozesses gegen den Delinquenten Jesus von Nazareth hatte.
Vor einem Jahr erschien in der Osterausgabe des Vatican-Magazins zum selben Thema dieser Artikel über Claudia Procula – die Frau des Pontius Pilatus:

>> Ohne ihn gäbe es kein Ostern, keine Kreuzigung und keine Auferstehung. Gemeint ist Pontius Pilatus, der Statthalter von Judäa, der innerhalb des österlichen Geschehens, des Leidens Christi und seinen Tod am Kreuz eine zentrale Rolle spielte. Doch welche war die genau? War er ein Werkzeug Gottes? Oder schlicht ein politischer Opportunist als Vertreter der kaiserlichen Macht in einem winzigen Landstrich der Levante, bewohnt von einem eigenwilligen und zuweilen grausam eifernden Volk, dessen Gebaren ihn als römischer Soldat des öfteren befremdet haben mag? Das Verwaltungsgebiet Judäa, welches damals neben Judäa zudem noch aus Samaria und Idumäa im Süden zwischen Mittelmeer und Totem Meer bestand, war beinahe deckungsgleich mit dem Gebiet, in dem Jesus Christus umherwanderte, verkündete und Wundertaten vollbrachte.
Womöglich ist der Statthalter von Judäa aber auch ein beherzter Mann gewesen, der in dem diplomatischen Rahmen, in dem er eingebunden war, seinen Spielraum auszunutzen wusste, um alles zu versuchen, was von seiner Seite aus möglich war, um das Leben Jesu doch noch zu retten: Etwa als er die Menge befragt, welchen Verbrecher er freilassen solle, wozu das Matthäusevangelium eigens anmerkt: „Er wusste nämlich, dass man Jesus nur aus Neid an ihn ausgeliefert hatte“ (Mt 27,18).
Der direkt darauf folgende Vers ist besonders ungewöhnlich und enthält eine wichtige Hintergrundinformation zum Privatleben des Pilatus. Wir kommen gleich noch einmal darauf zurück. Dass die Rolle des Präfekten von Judäa in der Passionsgeschichte Jesu nicht gar so ungnädig beurteilt werden sollte, darauf weist uns insbesondere auch das Evangelium nach Lukas hin, Kapitel 23, 13 bis 16.

Vermutlich stammt Pilatus aus Mittelitalien, den Abruzzen oder auch Umbrien und hatte entweder als Centurio oder als Tribun am Rhein oder an der Donau dem Reich gedient – dies war in den allermeisten Fällen die Voraussetzung, ein Präfektenamt zu erhalten. Tacitus bezeichnet Pilatus zwar – um das Jahr 100 – als Prokurator, doch tatsächlich hatte er das Amt des Statthalters, also des Präfekten, mit Amtssitz in Caesarea und als Oberbefehlshaber von etwa 3.500 Soldaten der Kavallerie und Infanterie seit dem Jahre 26 bis zum Jahre 37 inne. Er hatte einen Leuchtturm und ein Äquadukt errichten lassen, sorgte sich also um eine gewisse Infrastruktur seines Verwaltungsgebietes. Dass er dazu noch ein Privatleben besaß und verheiratet war, ja seine Frau ihn sogar nach Judäa begleitet hatte, erfahren wir einzig und allein aus einer fast winzigen, aber dafür um so geheimnisvolleren Passage im Matthäusevangelium, die sich nur dort findet: „Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, ließ ihm seine Frau sagen: Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum“ (Mt 27,19).
Mehr erfahren wir nicht: Weder ihren Namen noch den konkreten Inhalt ihres Traumes, in dem es allerdings um Jesus von Nazareth gegangen sein muss. Gerade deshalb aber wurden Schriftsteller und bildende Künstler durch die Jahrhunderte hinweg von diesem einzigen Vers zutiefst inspiriert. Die Überlieferung der kirchlichen Traditionen, vor allem der Ostkirche, kennt sogar den Namen dieser Frau – Claudia Prokula habe sie geheißen, von vornehmer Abkunft sei sie, ja sie sei sogar mit dem damals amtierenden Kaiser Tiberius verwandt gewesen. Die wohl berühmteste Darstellung der von Matthäus geschilderten Szene findet sich auf einem Tafelbild in der Wiener Schottenkirche, das um 1469 entstanden sein soll.

Die Kirchenväter waren sich uneins in der Bewertung dieses – letztlich folgenlosen – Eingriffs einer Frau in das Passionsgeschehen. Johannes Chrysostomus glaubte genau wie Ambrosius von Mailand, oder aber auch in jüngerer Zeit Calvin, daran, dass Claudias Traum von Gott gesandt worden sei. Dagegen waren Beda Venerabilis, Anselm von Laon und auch Martin Luther davon überzeugt, dass er nicht von Gott gekommen sein könne, sondern vom Satan, der das Heilgeschehen habe aufhalten beziehungsweise verhindern wollte – der ewige Feind habe sich eines Weibes bedient, um die Erlösung zu verhindern. Dagegen könnte allerdings sprechen, dass sämtliche Träume, die im Matthäusevangelium erwähnt werden – wie etwa die beiden Träume des heiligen Josef – stets von Gott und seinen Engeln geschickt wurden. Die katholische Schriftstellerin Gertrud von le Fort hat sich von der Überlieferung zu ihrer Erzählung „Die Frau des Pilatus“ inspirieren lassen, in der Claudia Procula durch zahllose sakralen Bauten aller künftigen Jahrhunderte wandert und dabei immer wieder und wieder die Passage aus dem Credo erschallen hört: „Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“. Zurückgekehrt nach Rom schließt sie sich den Christen an, ihr Mann muss dabei zusehen, wie sie im Circus den Märtyrertod stirbt – letztlich die Bluttaufe erhält.

Es gibt eine weitere literarische Bearbeitung des Traums der Claudia Procula, die nicht ganz so bekannt ist wie die Erzählung der wunderbaren Gertrud von le Fort – dabei mit noch eindrücklicheren Bildern: Sie findet sich in dem Kranz von elf „Christuslegenden“, den uns Selma Lagerlöf, der als erster Frau überhaupt im Jahre 1909 den Nobelpreis für Literatur verliehen wurde, geflochten hat. Unter diesen hochpoetischen Legenden, die zumeist auf apokryphen Überlieferungen fußen, findet sich auch eine Bearbeitung des Motivs des Schweißtuchs der Veronika mit dem gleichnamigen Titel, das ihre Kollegin von le Fort einige Jahrzehnte später ebenfalls inspiriert hat. Die Greisin Faustina, die mittlerweile fast neunzig Jahre alte, ehemalige Amme des Kaisers Tiberius, ist der einzige verbliebene Mensch, auf den der grausame und hasserfüllt gewordene Mann noch hört, die er liebte wie eine zweite Mutter. Doch nun ist sie in die Sabiner Berge in die Hütte zurückgekehrt, in der sie einst geboren wurde, und somit ist niemand mehr im Palast auf Capri, der ihn noch zurückhalten kann, wenn Misstrauen und Menschenhass ihn überkommen. So schlecht steht es um des Kaisers Seele, dass selbst die Römer aufgegeben haben, für ihn in seinem besonderen kleinen Tempel zu beten. Ein grauenvoller Aussatz habe Tiberius befallen, der ihm die Finger und Zehen verfaulen lasse und ihn völlig entstelle.
Ohne zu zögern und trotz ihres hohen Alters macht sich des Kaisers ehemaliges Kindermädchen auf den Weg nach Jerusalem, um nach dem Propheten aus Nazareth zu suchen, von dem man ihr berichtet hat, dass er mit Gottes Vollmacht Aussätzige von der Krankheit befreien und ihr Aussehen vollständig wiederherstellen kann. Doch sie trifft dort zu spät ein – Jesus Christus befindet sich bereits auf seinem Weg nach Golgatha. Sie kommt hinzu, als er auf der Via Dolorosa fällt und sie trocknet ihm mit ihrem Schleier den Schweiß, wischt notdürftig das Blut aus seinem Antlitz. Sie wird mit diesem Schweißtuch, dem Schleier, der jetzt auf wunderbare Art ein genaues Abbild von Jesus Christus trägt, nach Rom zurückkehren, den Kaiser heilen und auf den Namen Veronika getauft werden. Im letzten Drittel der Erzählung hat Selma Lagerlöf den Traum der Claudia Procula eingefügt und mit dichterischer Einfühlsamkeit beschrieben, was dessen Inhalt gewesen sein könnte: Die junge Frau des römischen Landpflegers Pilatus steht auf dem Dach ihres Hauses und schaut in den Hof hinunter, wo sie alle Kranken, Blinden, Lahmen, Pestkranken, Aussätzigen und Siechen der ganzen Welt versammelt sieht. Sie sprechen zu ihr: „Wir suchen den großen Propheten, den Gott zur Erde hinab gesandt hat. Wo ist der Prophet von Nazareth, er, der über alle Pein Macht hat? Wo ist er, der uns von allen unseren Leiden zu erlösen vermag?“ Claudia hört einen ihrer Sklaven antworten:“Pilatus hat ihn getötet“. Die Kranken heulen und klagen ob dieser Antwort. Claudia ist darüber so verstört, dass sie zu weinen beginnt und davon aufwacht. Als sie wieder einschläft, setzt sich der Traum fort. Diesmal ist der Hof voller Wahnsinniger, Geisteskranker und Besessener. Sie flehen, dass der Prophet von Nazareth ihnen ihren Verstand wiedergeben möge. Doch sie erhalten dieselbe Antwort, reagieren darauf mit einem Geheul wie von wilden Tieren und fangen an, sich selbst zu zerfleischen. Claudia möchte nicht mehr schlafen, aber der unheilvolle Traum setzt sich weiter fort. In der nächsten Sequenz haben sich alle Gefangenen, Zwangsarbeiter in den Bergwerken, Galeerensklaven, zum Tode durch Hinrichtung Verurteilten in ihrem Hof versammelt und flehen darum, dass Jesus ihnen die Freiheit und den Sklaven das Glück wiedergeben möge. Auch ihnen wird beschieden, dass ihr Anliegen unmöglich sei, denn Pilatus habe Jesus getötet, worauf die Gequälten in einen solchen Wutausbruch verfallen, „dass Himmel und Erde erbebten.“ Die verzweifelte Claudia erwacht unter Tränen, kann aber nichts dagegen unternehmen, dass der Schlaf mitsamt der nächsten Traumsequenz sie heimsucht. Diesmal sieht sie auf ihrem Hof alle Menschen, die jemals in Kriegen verwundet und verstümmelt worden waren. Mit offenen, blutenden Wunden stehen sie vor ihr, gemeinsam mit all jenen, die in Kriegen ihre Väter, Söhne, Brüder und Enkel verloren haben. Sie fragen nach jenem Propheten aus Nazareth, der Frieden auf die Erde bringen wird, der die Schwerter zu Sensen und die Speere zu Winzermessern umschmieden wird. Sie erhalten von dem mittlerweile ungeduldig gewordenen Sklaven die selbe Antwort wie alle anderen. Claudia will den Jammer der Menschen nicht mehr mitanhören, stürzt von der Balustrade fort, erwacht zur gleichen Zeit und bemerkt, dass sie vor Angst aus dem Bett gesprungen war. Doch wiederum übermannt sie der Schlaf und es folgt die letzte der schrecklichen Traumsequenzen dieser einen Nacht: Diesmal steht der Kaiser Tiberius selbst vor der Pforte, unmenschlich entstellt und nur an seiner Kleidung und seinem Gefolge zu erkennen. Er bittet – dieses Motiv ist kongruent zur Rahmenerzählung um die kaiserliche Amme Faustina – um Heilung durch den Propheten und Heiler aus Nazareth und verspricht dafür Unmengen von Geschmeide, Schalen mit Perlen und Säcke mit Goldmünzen, die Herrschaft über Judäa, die römische Kaiserherrschaft als sein Adoptivsohn. Doch selbst dem Cäsar Tiberius muss der Sklave der Procula und ihres Mannes, dieses Mal auf Knien, mitteilen, dass Pontius Pilatus ihn getötet habe. Nun erwacht Claudia erneut und erwacht erst am nächsten Tag – dem Tag des Verhörs Jesu und seiner Kreuzigung. Eilends lässt sie eine Botschaft an ihren Mann senden, doch sie kann die Verurteilung Jesu nicht verhindern – Pilatus seinerseits wäscht darauf hin in aller Öffentlichkeit seine Hände, an denen nicht das Blut eines Unschuldigen kleben soll (Mt 27,24).
Von Tertullian, der um 220 gestorben ist, wissen wir, dass Pilatus später Christ wurde, als ein Zeuge der Unschuld Christi. Andere Überlieferungen sprechen von einem Selbstmord in Vienne im Jahr 39. Dass Claudia sich den Christen anschloss und Pontius Pilatus sich später taufen ließ, ist allerdings nicht ganz unwahrscheinlich. Tatsächlich ist zumindest Claudia in den orthodoxen Heiligenkalender aufgenommen worden.

März 31, 2021   No Comments

Ossip Mandelstam über Josef Stalin – November 1933

Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,

Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –
Betrifft’s den Gebirgler im Kreml.

Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
Und Zentnergewichte wiegt’s Wort, das er fällt,

Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

Die pfeifen, miaun oder jammern.
Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.

Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
Und breit schwillt die Brust des Osseten.

(Kurt Lhotzky)

März 4, 2021   No Comments

Email aus Rom von Paul Badde zu „Poetische Pilgerorte“


Vor einigen Tagen habe ich eine schöne Email des bekannten katholischen Journalisten Paul Badde aus Rom bekommen, wo ihm scheinbar eine Büchersendung aus dem Verlag fe-medien den dortigen, viel strengeren, lockdown etwas versüßen konnte.
Paul Badde verschickt nicht nur sprachlich schöne Emails, sondern er pflegt an jede Mail ein interessantes selbstgemachtes kunsthistorisches Foto von einem Meisterwerk der christlichen bildenden Kunst anzuhängen.
Neulich schrieb er mir dazu folgendes:

… heute morgen kamen mit einem Postpaket aus Immenried im Allgäu auch Deine „Poetischen Pilgerorte“ hier in Rom an, in denen ich gleich kleben blieb, um Dir jetzt von Herzen dazu zu gratulieren. Da hast Du etwas ganz Wundervolles produziert […] Herzlichen Glückwunsch und möglichst viele Leser, die Deinen Wegen mit Deinem Buch unter dem Arm folgen mögen.

Wer mehr dazu erfahren möchte, der schaue hier auf die eigene Seite für das Buch, damals noch in der ersten Auflage im Michael Müller Verlag mit einer Rezension in der Tagespost. Die zweite Auflage meines Buches ist – wie bereits vermeldet – kürzlich im fe-medien Verlag erschienen.

Januar 14, 2021   No Comments

Walter Nigg: Sokrates und der Tod

>>In seiner Einstellung zum Tode hat Sokrates noch einmal einen letzten Höhepunkt erreicht, der seine religiöse Grundhaltung wiederum leuchtend sichtbar macht. Es ist unumgänglich notwendig, Sokrates gerade auf dem Weg zum Sterben noch zu begleiten, da die Todesmöglichkeit beständig in das Leben aller Menschen hineinragt. Wie Sokrates über den Tod dachte, darüber ist die Nachwelt ziemlich genau unterrichtet. Er kannte keine Furcht vor dem Tode und betrachtete ihn nicht als ein Übel, indem er erklärte: „Niemand weiß vom Tode, ob er nicht vielleicht sogar das allergrößte Glück für den Menschen ist.“ Sokrates neigte dazu, ihn unter dem Gesichtswinkel des inneren Gewinnes zu betrachten: „Eines von zweien nämlich ist das Totsein: entweder ist es eine Art Nichtsein, so daß der Tote keinerlei Empfindung hat von irgend etwas, oder es ist, wie der Volksmund sagt, eine Art Verpflanzung und Übersiedelung der Seele von hier an einen anderen Ort. Im ersten Fall nun, wo von Empfindung nicht mehr die Rede ist, sondern von einer Art Schlaf, der so tief ist, daß dem Schlafenden nicht einmal irgendein Traumbild erscheint, wäre der Tod ein wunderbarer Gewinn. Denn ich glaube, wenn einer eine solche Nacht, die ihm einen völlig traumlosen Schlaf gebracht hat, ausählte und ihr die übrigen Nächte und Tage seines Lebens gegenüberstellen müßte, um zu entscheiden, wie viele Tage und Nächte in seinem Leben er glücklicher verbracht hat als diese Nacht – ich glaube, dann wird nicht etwa bloß ein Mann gewöhnlichen Schlages, sondern der Großkönig in Person finden, daß diese sich sehr leicht zählen lassen im Vergleich zu den anderen Tagen und Nächten. Ist also der Tod von dieser Art, so nenne ich ihn einen Gewinn; denn die ganze Ewwigkeit scheint daneben nichts weiter zu sein als eine einzige solche Nacht. Ist aber der Tod gleichsam eine Art Auswanderung von hier an einen anderen Ort und hat es mit dem, was der Volksmund sagt, seine Richtigkeit, daß dort alle Verstorbenen weilen, was gäbe es dann für ein größeres Glück als dieses?
Ja für mich hätte der Aufenthalt dort noch seinen ganz besonderen Zauber, seine Aufgabe, darin zu sehen, daß man die dort Weilenden ausforsche und prüfe wie die Menschen hier auf Erden, wer von ihnen weise und wer es zu sein glaube, ohne es doch zu sein. Wieviel gäbe mancher darum, wenn er die Führer des großen Heeres von Troja oder den Odysseus oder tausend andere, die zu nennen wären, Männer und Frauen, verhören könnte! Mit ihnen dort sich zu unterhalten und zu verkehren und sie auszuforschen, welch überschwengliches Glück wäre das!“<< gefunden in Walter Nigg: Von Heiligen und Gottesnarren

November 27, 2020   No Comments