Zum Tage – russisch-orthodoxe Andacht zum heiligen Nikolaus von Myra
[Ein Eintrag vom 6. Dezember 2017]
Diese Andacht wird bei den Russen und Serben erst am 19. Dezember gesungen – die russisch-orthodoxe Kirche feiert nach dem alten Kalender – doch nach all dem Weihnachtsmann-Krimskrams heute brauche ich ein wenig Erbauung.
Wer Russisch lesen und sprechen kann, ist in der Lage, mitzusingen, das Video hat Untertitel.
Es enthält circa ab Minute 8.00, den Akathistos zum heiligen Nikolaus, dessen deutsche Übertragung man hier auf den Seiten der St. Michaels-Gemeinde finden kann.
Wer das Vatican-Magazin bezieht oder es gerne kennen lernen möchte: In meiner Rubrik „Heiligtum der besonderen Art“ geht es diesmal um die Basilika San Nicola in Bari, auch wenn der Artikel wenig zentraleuropäisch-winterlich geworden ist; dafür erzähle ich eine der Geschichten, die im Akathist auch besungen wird, die sich um den heiligen Bischof rankte und seinen Ruhm als Wundertäter und Nothelfer festigte.
Dezember 6, 2021 2 Comments
Heilige Josephine Bakhita
Dieser ebenso wundervollen wie außergewöhnlichen Heiligen, derer wir heute gedenken, und ihrem Santuario in Schio, wo sie einfach nur „La nostra Madre Moretta“ genannt wird, habe ich im Vatican Magazin Dezember 2019 einen eigenen Beitrag gewidmet.
Doch zuerst hat unserer Papst em. Benedikt XVI. das Wort:
„Ja, dieser Patron hatte selbst das Schicksal des Geschlagenwerdens auf sich genommen und wartete nun „zur Rechten des Vaters“ auf sie [Josephine]. Nun hatte sie „Hoffnung“ – nicht mehr bloß die kleine Hoffnung, weniger grausame Herren zu finden, sondern die große Hoffnung: Ich bin definitiv geliebt, und was immer mir geschieht – ich werde von dieser Liebe erwartet. Und so ist mein Leben gut. Durch diese Hoffnungserkenntnis war sie „erlöst“, nun keine Sklavin mehr, sondern freies Kind Gottes. Sie verstand, was Paulus sagte, wenn er die Epheser daran erinnerte, daß sie vorher ohne Hoffnung und ohne Gott in der Welt gewesen waren – ohne Hoffnung, weil ohne Gott. So weigerte sie sich, als man sie wieder in den Sudan zurückbringen wollte; sie war nicht bereit, sich von ihrem „Patron“ noch einmal trennen zu lassen.“
Nachzulesen bei kath.net hier.
Und hier mein Text für VM Dezember 2019:
Der Name des norditalienischen Städtchens Schio in der Provinz Vicenza, östlich des Gardasees, ist im deutschsprachigen Raum nur wenig geläufig, obwohl es doch Eingang in die Weltliteratur gefunden hat. An der Fassade eines Hauses ganz in der Nähe des Doms informiert eine Gedenkplakette darüber, dass hier zur Zeit des Ersten Weltkriegs der bedeutende Erzähler und spätere Literaturnobelpreisträger Ernest Hemingway gewohnt hat. Hemingway, damals kaum zwanzig Jahre alt, meldete sich aus reiner Abenteuerlust beim Roten Kreuz an der italienischen Front und war bis zu seiner Verwundung durch eine Granate Sanitätsfahrer. Seine Erlebnisse in Norditalien, wozu auch die unglückliche Liebe zu einer britischen Krankenschwester gehört, hat er gut zehn Jahre danach unter dem Titel „A Farewell to Arms“ – deutscher Titel „In einem anderen Land“ – veröffentlicht. Die Geschichte endet traurig, der gemeinsame Sohn mit der Krankenschwester wird tot geboren und die Geliebte stirbt an ihren inneren Blutungen. „Die Welt zerbricht jeden … die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie,“ so das Resümee des Ich-Erzählers – dieser Satz deutet bereits auf das traurige Lebensende des Schriftstellers hin. Doch seine Zeit in Schio hat Hemingway sehr genossen. Nach Kriegsende, im Juni des Jahre 1922, kehrte er sogar noch ein Mal zurück. Über Schio und die dortige Osteria „Cantarana“, die er offenbar gerne und oft besuchte, schrieb er: „Da gab es eine Gartenwirtschaft in Schio, deren Mauern von Glyzinien überwachsen waren, wo wir während der warmen Abende Bier tranken, unter einem Mond, der uns bombardierte und alle Arten von Schattenspielen mit der Platane, unter der unser Tisch stand, spielte.“ Wir wissen nicht, um welche Themen es am Biertisch ging, aber es ist gut möglich, dass man dem jungen US-Amerikaner die Geschichte von „La nostra madre moretta“ erzählt, er sie vielleicht sogar einmal selbst gesehen hat, denn Giuseppina Bakhita, ehemalige Sklavin aus dem Sudan, befand sich bereits seit dem Jahr 1902 in dem Städtchen, genauer gesagt lebte sie im dort ansässigen Institut der Canossianerinnen.
„Unsere braune Mutter“ – so nannten die Einwohner von Schio diese charismatische Ordensfrau liebevoll, die ein so schweres Schicksal aus dem fernen Nordostafrika nach Nordostitalien verschlagen hatte; ein Schicksal, das sie persönlich felsenfest als reinen Glücksfall betrachtete, trotz all der bedrückenden Not und dem schweren Leid, das sie hatte durchstehen und ertragen müssen. Denn, davon war sie zutiefst überzeugt: Wäre sie nicht von ihrer Familie losgerissen, von Sklavenhändlern verschleppt und weiterverkauft worden, hätte sie niemals ihren Herrn Jesus und seine von ihr stets geliebte jungfräuliche Mutter kennen gelernt.
„Bakhita“ – dies war der Name, den ihr die Sklavenhändler aufzwangen, er bedeutet „die Glückliche; die vom Glück begünstigte“ in Arabisch. Diese Praxis der Vergabe eines neuen Namens diente dazu, der künftigen Sklavin ihre Herkunft und eigentliche Identität zu nehmen. In Bakhitas Fall ist das vollständig gelungen – sie konnte sich später nicht mehr an ihren eigentlichen Namen und den ihrer Familie erinnern. Vermutlich im Jahre 1869 in Olgossa geboren, verlebte das Mädchen zunächst eine glückliche Kinderzeit in einer liebevollen und auch für die dortigen Verhältnisse wohlhabenden Familie. In den ersten Jahren ihres irdischen Daseins kannte sie kein Leid und keinen Schmerz. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre ältere Schwester von Banditen verschleppt wurde. Das war die erste Erfahrung schlimmen Schmerzes, doch Bakhitas Kreuzweg hatte noch nicht begonnen. Auch für ihre Eltern muss der Raub einer weiteren Tochter das Herz zerrissen haben. Zunächst wurde das Mädchen, das jetzt also Bakhita war und vermutlich gerade zwischen sechs oder sieben Jahre alt, einen Monat lang gefangen gehalten. Zwar gelang ihr die Flucht, doch wird sie wieder eingefangen und weiterverkauft. Inzwischen befindet sie sich fast tausend Kilometer entfernt von ihrem Geburtsort, ihrer Familie und ihren Geschwistern, in Khartoum am Zusammenfluss des Blauen und des Weißen Nils. Dort wird sie – der Sudan steht seit dem Jahre 1806 unter der Herrschaft der Osmanen, mehrfach verkauft und zuletzt an einen türkischen General, dessen Ehefrau die Haussklaven grausam zu misshandeln pflegte. Bakhita wurde fast jeden Tag mit Peitschenhieben gefügig gemacht, ein Mal, wie sie sich erinnert, aus reiner Willkür anhaltend gegeißelt, ihre Wunden blieben unbehandelt. Die grausamste Tortur, der man sie dort unterzog, war die „Tätowierung“ mit mehr als einhundert Rasierklingenschnitten am ganzen Körper. Nach der Prozedur rieb man die blutenden Wunden mit Salz ein. Bakhita überlebte – ihr schönes Gesicht blieb unversehrt, doch die vielen grauenvollen Narben trug sie fortan am ganzen Körper.
Endlich wird sie an den italienischen Generalkonsularagenten Legnani verkauft und das Blatt beginnt sich für die mittlerweile Sechzehnjährige „vom Glück Begünstigte“ endlich zu wenden. Legnani gibt sie an seinen Freund Augusto Michieli ab, der ein Kindermädchen für seine Tochter Mimmina sucht und nimmt sie mit nach Venedig. Der Gutsverwalter Michielis wiederum gehört – welch ein Zusammenspiel! – zu den geistlichen Beratern von Kardinal Sarto, des späteren Papstes Pius X. Der Mann schließt Bakhita ganz besonders in Herz und bemüht sich zuallererst um das Seelenheil der vermeintlichen Mohammedanerin; in Wirklichkeit wusste Bakhita nichts von einem Gott, obzwar sie sich bereits nach ihm sehnte: „Beim Anblick der Sonne, des Mondes und der Sterne, der Schönheiten der Natur, sagte ich zu mir selbst: ‚Wer mag der Herr all dieser schönen Dinge sein?‘ Und ich empfand einen tiefen Wunsch, ihn zu sehen, zu erkennen, ihm Ehre zu erweisen.“
Sie wurde zusammen mit Mimmina christlich unterwiesen und mit der vollen Unterstützung ihres Gönners namens Illuminato Checchini , des Gutsverwalters der Familie, in das Katechumenat aufgenommen.
Überliefert wird, dass sie, als sie zum ersten Mal ein Kruzifix sah, sie zutiefst beeindruckt gefragt habe, was dieser Mann verbrochen habe, dass er so behandelt werde. Nichts, lautete die Antwort, er wollte aus Liebe für uns sterben, für uns und auch für dich. Erstaunt wiederholte sie die Worte: „Auch für mich?!“
Ihre Liebe zum Gekreuzigten wuchs nun stetig und als sie im Katechumenat erfuhr, dass sie durch die Taufe ein Kind Gottes werde, wuchs ihre Sehnsucht ins Unermessliche. Doch die Eltern von Mimmina besaßen ein Hotel in Sudan und wollten die Katechumenin dahin mitnehmen.
In dieser Situation traf Bakhita wohl zum ersten Mal in ihrem bisherigen Leben eine eigene, eine freie Entscheidung: Sie weigerte sich, die Familie zu begleiten, da sie die Taufe noch nicht empfangen hatte und im Sudan – ihrem Herkunftsland – nicht imstande sein würde, das neu angenommene Christentum auch ordentlich zu praktizieren. Deshalb wolle sie bei den Schwestern bleiben. Ihre Herrschaft übte Druck auf sie aus, doch Bakhita, die ja in Italien den Status einer freien Frau innehatte, blieb, wenngleich mit wehem Herzen, standhaft. Und so wurde sie vom Patriarchen von Venedig am 9. Januar 1890 auf den Namen Giuseppina Margherita Fortunata – die vom Glück begünstigte in der italienischen Namensform – getauft. Am selben Tag empfing sie auch die Firmung und feierte Erstkommunion „mit einer Freude, die nur Engel beschreiben könnten“, wie sie in ihren Erinnerungen berichtet. Sie bleibt auch danach noch bei den Canossianerinnen und innerhalb von drei Jahren wächst in ihr die Gewissheit, zum Ordensleben berufen zu sein. So tritt sie im Dezember 1893 in Verona in das Noviziat ein und wird von Kardinal Sarto auf die Gelübde geprüft, die sie drei Jahre später, am Tag der Unbefleckten Empfängnis, ebenfalls in Verona, ablegt.
Die allgemeine Freude darüber ist so groß, dass der Neffe der Ordensgründerin Maddalena de Canossa, ein Kardinal, sie unbedingt empfangen möchte.
Der Orden der Canossianerinnen ist seit 1886 auch in Schio ansässig und führt dort einen Kindergarten, eine Grund- und Berufsschule und ein Waisenhaus. Giuseppina, die zumeist als Pförtnerin im Orden eingesetzt wird, schickt man 1902 nach Schio, wo sie in der Küche arbeitet und ihre Aufgaben in treuem Gehorsam, stets voller Milde, Güte und Zärtlichkeit gegenüber Anderen erfüllt. Sie, die ehemalige Sklavin, gibt sich nun in freier und heilige Hingabe dem Willen Gottes hin, als eine „Sklavin der Liebe“ an „El Paron“ den Patron oder auch „El Segnor“ – den Herrn, wie sie ihn in Reminiszenz an ihr früheres Dasein bewusst nennt. Doch bald schon erhält sie eine neue wichtige Aufgabe.
Als Italien im Mai 1915 in den Ersten Weltkrieg eintritt, wird ein Teil der Schwestern evakuiert, Giuseppina bleibt in Schio und tut nun Dienst in der Sakristei, ein Dienst, der sie mit besonderer Freude erfüllt, kann sie doch „El Paron“ so stets ganz nahe sein. Liebe zum Herrn und Liebe zu den Mitmenschen war der Ordensgründerin das Allerwichtigste. Dazu gehört für Giuseppina auch an erster Stelle das Verzeihen und die Vergebung für alle Menschen, die ihr in der Vergangenheit so viel Furchtbares angetan haben: „Würde ich den Sklavenhändlern begegnen, die mich geraubt haben und denen, die mich gefoltert haben, würde ich mich niederknien und ihnen die Hände küssen. Wenn das alles nicht passiert wäre, würde ich heute nicht Christin und Ordensschwester sein. … Diese Armen wussten nicht, welch großen Schmerz sie mir zufügten. Sie waren ja die Herren und ich ihre Sklavin. So wie wir gewohnt sind, das Gute zu tun, taten die Sklavenhändler das Ihrige, nicht aus Bosheit, sondern aus Gewohnheit.“
Das sind die Worte einer einfachen Frau – aber was für eine Herzensbildung spricht aus ihnen!
Bis auf zwei Jahre, in denen sie als Pförtnerin in Vimercate bei Mailand dient, bleibt sie bis zu ihrem Lebensende im Ordenshaus in Schio. Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, und das Städtchen von Fliegerbomben verschont bleibt, sind die Einwohner fest davon überzeugt, dass sie dies der Anwesenheit ihrer „Madre Moretta“zu verdanken haben.
In ihren letzten Jahren wird Giuseppina zusehends kränker, sie leidet an Arthritis, muss im Rollstuhl sitzen, hinzu kommt quälendes Bronchialasthma. Dem sich allmählich nahenden Tod sieht sie gelassen entgegen, denn: „Wenn ein Mensch so sehr einen anderen liebt, dann wünscht er brennend, bei ihm zu sein: Warum also so große Angst vor dem Tod? Der Tod bringt uns zu Gott.“
Sie stirbt am 8. Februar 1947, auf ihren Lippen die Worte: „Wie froh ich bin, die Jungfrau! Die Jungfrau!“ und wird am 17. Mai 1992 zusammen mit Josémaria Escriva selig gesprochen, acht Jahre später dann heilig und gilt als Schutzpatronin der katholischen Kirche im Sudan.
Es gäbe noch so viel zu erzählen von dieser außergewöhnlichen Heiligen. Doch alles, was noch gesagt werden könnte, erübrigt sich bei einem Blick auf ihr himmlisches, lächelndes Antlitz: Nigra sum, sed formosa! Diese außergewöhnliche Frau mit dem bezaubernden Charisma widerlegte mit ihrem bemerkenswerten Schicksal die oben angeführten Worte jenes Schriftstellers, ihres Zeitgenossen, der ein paar Jahre lang nur einen Steinwurf entfernt von ihr lebte: Die Welt konnte die Frau, die Giuseppina Bakhita war und ist, weder zerbrechen noch töten.
Februar 8, 2021 4 Comments
Die heilige Rita von Cascia und ihr Gebetsfelsen
Die heilige Rita von Cascia gehört, was den Grad ihrer Verehrung betrifft, zu den Heiligen der Superlative. Aus ganz Europa, wie auch aus Übersee, strömen bis zu einer Million Pilger im Jahr in das Städtchen Cascia, hinter den sieben Bergen, den Monti Sibillini, im Südosten von Umbrien. Die Basilika von Cascia bewahrt Ritas unverweslichen Leichnam, gehüllt in die Ordenstracht der Augustinerinnen, auf. Ihr Glassarg wird von einem prächtigen Schrein ummantelt und von goldenen Engeln bewacht. Seine eigenwillige Gestaltung erinnert an die Schlafkapsel eines Raumschiffes, in dem Astronauten der Zukunft ihre jahrhundertelangen Reisen durch den interstellaren Raum überbrücken. Nur, dass die heilige Rita nicht den Landeanflug erwartet, sondern die Wiederkunft des Herrn
Die Basilika wurde 1937 direkt neben dem historischen Konvent erbaut, in dem heute noch etwa fünfzig Augustinerinnen leben und Reliquien wie Ritas Ehering und Rosenkranz aufbewahren. Dort kann man auch den bemalten Holzsarg besichtigen, in dem sie Mitte des 15. Jahrhunderts beigesetzt wurde. Als man ihn im Jahre 1627, im Zuge des Seligsprechungsverfahren unter Papst Urban VIII. öffnete, fand man ihren Körper nach mehr als 150 Jahren unversehrt – und das, obwohl Holz weitaus mehr Luft und Feuchtigkeit durchlässt, als etwa ein gemauerter Sarkophag. Nach der Umbettung in einen Glasschrein ging erst so richtig die Post ab: Augenzeugen berichteten, dass die heilige Rita ihre Augen öffnete und wieder schloss, sich umdrehte und einmal sogar zum Deckel ihres Sarges empor geschwebt sei.
Nicht weiter verwunderlich, immerhin war Rita schon zeit ihres Lebens eine Art katholisches Superwoman. Das fing schon in der Wiege an. Ein Schwarm Bienen soll sich auf dem Gesicht des kleinen Mädchens niedergelassen haben, ohne sie zu verletzen. Sie verspürte schon als Kind eine Berufung zum Ordensleben, wurde aber im Alter von 12 Jahren an einen brutalen Tyrann verheiratet, der sie psychisch und physisch misshandelte und dem sie zwei Söhne gebar. Mit heroischer Tapferkeit und Demut ertrug sie ihren gottlosen Mann und war dabei ein solches Vorbild an Frömmigkeit, dass sie es nach über zwanzig Jahren Ehe schaffte, ihn zu bekehren.
Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf wurde er Opfer eines politisch motivierten Attentats. Als ihre beiden Söhne daraufhin eine Vendetta starten wollten, bat Rita Gott inständig, die beiden zu sich zu nehmen, bevor sie ihre Rachepläne durchführen und somit in große Sünde fallen könnten. Ihr Wunsch wurde erhört: Im Jahre 1402 starben auch noch ihre Söhne. Rita hätte jetzt ihrer Berufung folgen und in den Augustinerinnenkonvent von Cascia eintreten können. Doch die sagten Njet. Laut der Regel war die Aufnahme von Witwen nicht gestattet. Rita ließ nun ihre Beziehungen zur Gemeinschaft der Heiligen spielen, und es stellte sich heraus, dass es sogar enorm gute waren: Keine geringeren als Johannes der Täufer, Augustinus höchstpersönlich und Nikolaus von Tolentino – eine wahrhaft himmlische task force – schritten ein und transportierten sie mittels ihrer überirdischen Kräfte eines Nachts in die Kapelle des Konvents. Als die Schwestern in aller Herrgottsfrühe die – verschlossene! – Türe öffneten, staunten sie nicht schlecht. Und so kam es, dass Rita doch noch dort Aufnahme fand, endlich am Ziel ihres Lebens!
Geboren wurde sie um 1370 oder 1380 als Margherita Lotti-Mancini in Roccaporena, einem winzigen Gebirgsnest unweit von Cascia. Ihr Elternhaus ist erhalten und kann besichtigt werden, ebenso die Kirche, in der sie getauft und getraut wurde. Der spektakulärste von allen Orten, die mit der heiligen Rita in Verbindung stehen, ist aber sicher der „Scoglio della Preghiera“ – am Ortseingang erhebt sich ein etwa 120 Meter hoher, kegelförmiger Felsen, der von einer Steinschanze gekrönt wird, darüber wurde eine Kapelle errichtet. Zu Ritas Zeiten war der Weg, der sich in Serpentinen auf einer Seite des Felsens emporwindet, noch nicht ausgebaut. Pilger aus aller Welt haben gespendet, um den Pfad zu befestigen und einzufassen – ihre Namen mit Jahreszahlen sind auf den Simsen, die den Weg säumen, eingraviert. Das junge Mädchen, das sich so sehr nach einem Leben als Augustiner-Eremitin sehnte, hat sich oft auf den beschwerlichen Weg hinauf gemacht, ohne sicheren Halt für ihre Tritte und ohne das moderne, feste Schuhwerk, das wir heute kennen. Ganz oben, hoch über dem engen Tal, in dem sich die grauen Natursteinhäuschen von Roccaporena ducken, wird die junge Margherita Tage des Fastens und des Gebets verbracht haben – direkt unterhalb des Gebetsfelsens entspringt eine Quelle, die Versorgung mit herrlich frischem Wasser war sicher gestellt. Es ist ein ganz besonderer Ort, voller Majestät, den sie sehr geliebt haben muss.
Heute ist es erstaunlich zu sehen, mit welcher Zuversicht, Ausdauer und froher Gestimmtheit insbesondere ältere Menschen, Rentner, Greisinnen und Greise, Kranke und Behinderte diesen Aufstieg wagen, um oben auf dem eigentlichen Gebetsfelsen Rosen niederzulegen. Rita liebte diese Blumen und die Heiligenlegende erzählt, dass sie sich auf ihrem Krankenlager – es war tiefster Winter – einen Strauß frische Rosen gewünscht hat. Das Wunder geschah, eine Mitschwester fand frisch erblühte Rosen im Garten und brachte sie ihr. Seither weiht die Kirche am 22. Mai, ihrem Todestag, die „Rita-Rosen“, die insbesondere den Kranken aufgelegt werden, um Heilung zu bringen. Rita selbst litt 15 Jahren lang an einer Stirnwunde, die ihr, so ist überliefert, von einem Dorn aus der Dornenkrone Jesu zugefügt wurde. Im Kloster in Cascia ist das Fresko mit dem Gekreuzigten noch zu besichtigen, vor dem sie damals kniete und inständig bat, das Leiden des Herrn teilen zu dürfen.
Dabei war ihr eigenes Leben doch nicht gerade arm an Leid. Für ein einziges Frauenleben war das Maß schon reich bemessen: Erst unglücklich verheiratet, dann sterben Mann und Kinder, danach lebt sie nur noch für Gott ein Leben voller Buße und mystischen Erlebnissen.
Kurz vor ihrem Tod erhielt sie noch einmal eine großartige Vision, in der sie Jesus Christus zusammen mit der heiligen Gottesmutter schaute. Als sie starb, verbreitete sich paradiesischer Wohlgeruch im Konvent und die Glocken der Kirchen im Ort läuteten von selbst – wie von Engelshänden betätigt. Doch damals fing ihre Arbeit erst richtig an!
Besonders für Frauen ist die heilige Rita eine beliebte Ansprechpartnerin, war sie doch in ihrem Leben sowohl Ehefrau und Mutter als auch Nonne. Unangefochten ist ihr hoher Status als Heilige für aussichtslose Fälle, ungezählte Male konnte sie das Blatt für diejenigen wenden, die sie vertrauensvoll anriefen. Weil sich darunter vermutlich viele Autofahrer befanden, die in Italien unterwegs waren – jeder, der es selbst erlebt hat, weiß, was für ein aussichtsloser Fall der italienische Straßenverkehr ist – wurde sie auch noch die Patronin der Autofahrer in Italien. Heilige Rita von Cascia, bitt’ für uns!
(zuerst erschienen in Vatican-Magazin Mai 2011]
Mai 21, 2020 1 Comment
Zum 155. Geburtstag der heiligen Großfürstin Jelisaweta Fjodorowna
gebürtige Prinzessin Elisabeth von Hessen-Darmstadt und Konvertitin zum russisch-orthodoxen Glauben mein Artikel aus der Serie „Geistliche Paare“ über sie und ihren Mann Sergej, der Onkel des letzten Zaren für das Vatican-Magazin Ausgabe Mai 2017:
Sie war die schönste Frau ihrer Zeit in Europa – neben Kaiserin Elisabeth von Österreich – die deutsche Prinzessin Elisabeth Alexandra Luise Alice von Hessen-Darmstadt und Rhein. Und sie sollte als getaufte Lutheranerin und Konvertitin, Schwester der letzten Zarin, für die russisch-orthodoxe Kirche zu Jelisaweta Fjodorowna und, brutal ermordet von den Bolschewiken, zur heiligen Neumärtyterin werden.
Als eines von sieben Kindern am 1. November 1864 geboren und lutheranisch getauft auf den Namen ihrer heiligen Vorfahrin, Elisabeth von Thüringen, wuchs sie in einer liebevollen, doch nicht abgehobenen Umgebung auf. Ihr Vater Ludwig IV. von Hessen-Darmstadt ist der künftige Großherzog, ihre Mutter, Prinzessin Alice, die Tochter der englischen Königin Viktoria. Nach dem Vorbild ihrer heiligen Ahnin wurde sie angehalten, an Samstagen den Kranken in den Hospitälern Blumen zu bringen und stets nach den Armen,Waisen und Kriegsinvaliden zu schauen. Die älteren Kinder, also auch sie, hatten eigene Verpflichtungen im großherzoglichen Haushalt; sie mussten ihre Betten selbst machen, die Öfen besorgen, ihre Zimmer aufräumen und reinigen. Gleichzeitig legte Prinzessin Alice viel Wert auf die Pflege der schönen Künste, ihre Kinder sangen und musizierten –
von Ella, wie man Elisabeth in der Familie rief, wird berichtet, dass sie gut zeichnen konnte. Es hätte eine glückliche Kindheit und Jugend sein können, wenn nicht zuerst das dreijährige Brüderchen so unglücklich aus dem Fenster stürzte, dass es starb und schließlich im Winter des Jahres 1878 ein jüngeres Schwesterchen und die Mutter, Prinzessin Alice, der Diphtherie erlagen. Tapfer tröstete die Halbwaise nun ihre Großmutter, Königin Viktoria, die ihre weitere Erziehung übernahm.
Einige Frauen aus ihrem Hause waren bereits durch Heirat eng mit der Romanov-Dynastie verbunden wie etwa Maria Alexandrowna, die Gattin Zar Alexanders II. Dadurch kam es auch immer wieder zu verwandtschaftlichen Besuchen der Zarin, des Zarewitsch und seiner Geschwister, unter ihnen ein liebenswürdiger, stiller und sehr gläubiger junger Mann namens Sergej.
Gleichzeitig warb ein gewisser Prinz Friedrich Wilhelm von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm II., beharrlich um Ella, den diese allerdings als von eher rüpelhaftem Benehmen empfand – ganz anders als ihre große Liebe, Sergej Alexandrowitsch, ein schüchterner und zurückhaltender junger Mann von feiner Wesensart, den sie dann 1884 heiratete.
Inzwischen war Alexander II. einem Mordanschlag zum Opfer gefallen, und Alexander III. hatte den Thron bestiegen. Elisabeth war nun die Schwägerin des Zaren, und sie interessierte sich brennend für Russland, seine Sprache – und seinen Glauben. Gleichzeitig beeindruckte sie nicht nur die Gesellschaft am Zarenhof, wie den französischen Botschafter in St. Petersburg, Maurice Paléologue, sondern auch das einfache Volk. Der Franzose skizziert ihre Persönlichkeit in seinen Aufzeichnungen wie folgt: “Groß, schlank, mit hellen, unschuldsvollen tiefen Augen, zärtlichem Mund, weichen Zügen, einer geraden und feinen Nase, reinen, ebenmäßigen Linien, ist sie im Gang und in den Bewegungen von bezauberndem Rhythmus. Ihr Gespräch verrät einen schönen Geist, natürlich und ernst veranlagt.“ Ihrerseits ist Elisabeth vom tiefen und ernsten Glauben des Volkes ergriffen, ebenso wie von der äußerst frommen Zarenfamilie; sie ist fasziniert von Liturgie und Ritus der russisch-orthodoxen Kirche, dem sie zumeist nur unbeholfen folgen kann, wenn sie Sergej zum Gottesdienst begleitet. Sie weiß nicht, wie sie sich richtig verhalten soll, wenn er sich vor den Ikonen tief verbeugt und sie küsst – für eine Lutheranerin ein fremdartiger Brauch – also beschließt sie als Kompromiss vor dem heiligen Bild einen tiefen Knicks zu machen. Sergej betrachtete diese Hinwendung seiner Frau zur Orthodoxie mit zurückhaltendem Interesse – Elisabeth hat mehrmals heftig betont, er habe sie niemals zur Konversion überredet.
Der christliche Glaube verbindet die Liebenden tief und erhält einen entscheidenden Impuls, als der Zarenbruder Sergej mit Elisabeth gemeinsam eine Wallfahrt ins Heilige Land unternimmt, um dort an der Weihe der russischen Kirche „Heilige Maria Magdalena“ im Garten Gethsemane teilzunehmen. Als sie die Schönheit des Ortes sah, an dem der Herr so sehr gebetet, gewacht und gelitten hat, äußerte sie spontan, dass sie hier einmal gerne begraben sein wolle. Der Herr sollte diesen Wunsch auf besondere Weise erhören. Zunächst aber bereitet sie nach ihrer Rückkehr den Eintritt in die orthodoxe Kirche vor, schreibt Briefe an ihre Verwandten, fleht beinahe um Verständnis, vor allem bei ihrem Vater – der ihr dieses Verständnis aber versagt.
Wie ernst es ihr mit diesem Schritt ist, zeigt ein Zitat aus einem Brief an ihren Bruder: „Ich tue es mit so brennendem Glauben, da ich fühle, dass ich eine bessere Christin werden kann und einen Schritt auf Gott hintue. Ich tue dies aus der Überzeugung, dass es die höchste Religion ist.“
Am Vorabend zum Lazarussonntag des Jahres 1891 wurde sie in die orthodoxe Kirche aufgenommen, war Jelisaweta Fjodorowna geworden – es entsprach einem damaligen Brauch, dieses Patronymikon zu verwenden, wenn es den Namen des Vaters der betreffenden Frau im Russischen nicht gab – wie es bei Elisabeths Vater Ludwig der Fall war. Fjodorowna – das sollte bedeuten: „die Gabe Gottes“.
Im gleichen Jahr ernennt Alexander III. seinen Bruder Sergej, der während des russisch-türkischen Krieges zum Generalmajor befördert, dann den Oberbefehl über die Leibgarde des Zaren erhielt, zum Generalgouverneur von Moskau – ein neuer Lebensabschnitt für das junge Paar beginnt. Einander im Glauben ermutigend, weigern sie sich sogar, getrennt voneinander zu verreisen, möchte einer ohne den anderen nicht sein.
Als christliche Ehefrau strebt Jelisaweta vor allem nach den Tugenden der Vollkommenheit und Vergebung, sie schreibt: „Eine ganz vollkommene Frau zu sein – dies ist nicht einfach, denn man muss lernen, alles zu verzeihen.“ Gleichzeitig erhält sie in Moskau ausgiebig Gelegenheit, um ihren karitativen Tätigkeiten nachzugehen, die sie auch vor dem verrufensten Stadtviertel mit dem größten Elend, der höchsten Kriminalitätsrate und Kindersterblichkeit nicht Halt machen lassen – sehr zum Kummer der Polizeibeamten, die sie eigentlich schützen sollen und denen sie entgegnet, dass sie nichts zu fürchten habe, da sie unter dem Schutz des Allerhöchsten stehe, dessen Wille geschehe.
Als im Februar 1904 nach dem Angriff der Japaner auf Port Arthur der russisch-japanische Krieg ausbricht, sorgt sie sich nicht nur um das Wohl der verletzten Heimkehrer, sondern lässt ganze Feldkapellen, komplett mit Ikonostasen und allem, was für einen würdigen Gottesdienst nötig ist, an die Frontlinien schicken, den einzelnen Soldaten auch Geschenke wie kleine Ikonen und Gebetbücher für den Gebrauch im Feld. Mittlerweile residiert der ehemalige Zarewitsch, jetzt Nikolaus II. im Winterpalast, zusammen mit der jüngsten Schwester Elisabeths, Zarin Alexandra Fjodorowna. Den beiden Unglücklichen werden nur noch wenige Jahre vergönnt – Sergej und seiner Frau noch weniger Zeit bemessen sein: Am 17. Februar 1905 wirft der Sozialrevolutionär Iwan Kaljajew eine Bombe in die offene Kutsche des Gouverneurs von Moskau. Jelisaweta selbst ist kurz nach dem Anschlag vor Ort, um die blutigen Fleischstücke ihres Liebsten einzusammeln und seinen zerstörten Körper zunächst in die Kirche zu bringen – die Menschen erzählen sich, Sergejs Herz habe man auf einem der umliegenden Dächer gefunden.
Jelisaweta begegnet diesem unermesslichen Schmerz, dieser fundamentalen Erschütterung mit kämpferischem, christlichen Geist, wacht ganze Nächte betend und besucht den Attentäter im Gefängnis, um ihm ihre Vergebung zuzusichern und ihn zur Reue zu bewegen, damit er seine Seele retten könne. Sie lässt ihm die Heilige Schrift und eine kleine Ikone in der Zelle, doch Kaljajew bleibt verstockt.
Aus den ersten Schritten in die christliche Vergebung erwächst in Sergejs Witwe, die in den Jahren danach anfängt, das Herzensgebet immer inniger zu pflegen, der feste Wille, sich nun vollkommen in die Nachfolge Christi zu stellen. Durch den Verkauf ihres privaten Besitzes, vor allem auch ihrer Juwelen, wollte sie eine Klostergründung finanzieren, den „Martha und Maria Konvent der Barmherzigkeit“ in Moskau, das fast vier Jahre nach dem Attentat seine Pforten für sechs Schwestern öffnete – Jelisaweta hatte nämlich beobachtet, dass es in der monastischen Kultur Russlands an einer Gemeinschaft fehlte, die sowohl Gebet und liturgische Feiern mit tätiger Arbeit, vor allem karitativer Arbeit verband. So gehörte auch ein Hospital mit 22 Betten, eine Armenküche, eine Apotheke und ein Hospiz zu dieser Gründung. Im Martha- und Maria-Kloster leben bereits 12 Monate später schon 30 Schwestern und im Jahre 1913 werden 10.914 Patienten betreut und 139.443 kostenlose Mahlzeiten an Bedürftige ausgegeben. Der Glaubensweg, den Jelisaweta gemeinsam mit Sergej begonnen, der ihre Konversion damals mit Tränen in den Augen gesegnet hatte, und den sie nun alleine weitergehen musste, gestützt auf eine treue Gemeinschaft von Ordensschwestern, denen sie als Äbtissin vorstand, trug also reiche Frucht.
Doch mit der Kriegserklärung der Deutschen im August 1914 kam eine weitere, schicksalhafte Wende im Leben der Jelisaweta Fjodorowna. Ganz Russland wurde in diesem Sommer von einem hochexplosiven Gemisch aus patriotischen Gefühlen und aufgewühlter Deutschenfeindlichkeit ergriffen – es waren die Tage, in denen man Sankt Petersburgs Name „entgermanisierte“ – die Stadt hieß nun Petrograd. Zarin Alexandra Fjodorowna, die Schwester Elisabeths, die sehr zum Missfallen ihrer Schwester fast völlig unter dem Einfluss des sibirischen Wandermönchs Rasputin stand, wurde von manchen Politikern als deutsche Spionin betrachtet.
Der Zar wird im März 1917 abdanken, die provisorische Regierung fällt im Oktober (alter Kalender) bzw. November des selben Jahres und die Bolschewisten ergreifen die Macht. Die Zarenfamilie und ihre Verwandten werden deren blutiges Regime nur etwas mehr als ein halbes Jahr überleben. Nikolaus, Alexandra und ihre Kinder werden in Jekaterinburg erschossen, fast zur gleichen Zeit stößt man die Schwester der Zarin mit einigen anderen Adligen und einer Nonne in einen aufgelassenen Schacht im benachbarten Alapajewsk 30 Meter in die Tiefe. Möglicherweise konnten herausragende Balken noch ihren Aufprall abmildern, der Augenzeugenbericht eines der Täter beschreibt noch, dass man das Planschen von Menschen in Wasser hörte. Also warf man noch eine Granate hinterher, um das Werk zu vollenden. Die Antwort von unten war göttlicher Lobpreis und frommer Gesang. Dies erzürnte die Mörder vollauf und so sammelten sie Zweige und Kleinholz, brannten es an und warfen es hinunter, bis der Gesang endlich verstummte.
Angehörige der „Weißen“ bargen die Leichname und überführten sie zunächst nach China, dann nach Palästina. Elisaweta und ihre Leidensgenossin Barbara wurden in der Kirche der heiligen Maria Magdalena beigesetzt – der Herr hat seiner treuen Dienerin diesen einen Wunsch erfüllt.
Im Jahre 1981 wurden sie von der russischen Kirche im Ausland kanonisiert und werden seither als heilige Neumärtyrerinnen der russischen Orthodoxie verehrt.
November 1, 2019 No Comments
Guido Horst: Zurück zum Proprium – Editorial Vatican-Magazin Ausgabe August_September 2019
Zur Amazonassynode:
„Natürlich ist es gut, wenn von der Bischofsversammlung ein mahnendes Wort an die Politiker und die Verantwortlichen komment, der Naturzerstörung im Amazonas Einhalt zu gebieten und die Rechte der Indios zu gewährleisten. Das Kerngeschäft der Kirche ist aber nicht die Politik, sondern: gute Seelsorge und missionarisches Wirken. Warum aber auch hier der Versuch, die gesunde, moderne Theologie der Kirche, wie sie in den Texten des Zweiten Vatikanums zu finden ist [keine Anmerkung – BW] vom Sockel zu stoßen und die Kirche stattdesseen auf dem zeitgeistbedingten Fundament eines grünen Funktionalismus neu zu gründen?
(…)
Auch der kirchenferne Mensche sehnt sich nach Antworten auf die letzten Fragen. Die Kirche kann sie ihm geben. Nicht eine Sexualmoral, nicht ein Zölibatsgesetz und nicht die Männerweihe haben die Qualität einer „Totenbettfrage“, also jenes existenzielle Gewicht, das den Menschen angesichts seiner Endlich- und Erlösungsbedürftigkeit im Inneren fragen lässt, worauf er denn wirklich seine Hoffnung setzten kann.“
August 4, 2019 No Comments
Vinzenz von Paul und Louise de Marillac – zum Tage
Mein Beitrag aus der Rubrik „Geistliche Paare“ für das Vatican- Magazin vom Februar 2014
In der Ausgabe Juli 2013 dieses Magazins ging es um den heiligen Franz von Sales und die heilige Johanna Franziska von Chantal, die nicht nur Zeitgenossen von Vinzenz und Louise waren, sondern auch deren spirituelle Vorbilder. Vinzenz wurde nach dem Tode des Franz von Sales sogar der Seelenführer von Johanna Franziska. Am 13. Dezember 1641 hat Vinzenz eine Vision: Er sieht eine kleine feurig-glühende Kugel zum Firmament aufsteigen. Der Himmel öffnet sich: Ein größerer Feuerball kommt ihr entgegen und die beiden vereinigen sich, um weiter hinaufzusteigen, bis sie außer Sichtweite sind. Als Vinzenz vom Tode der Johanna Franziska erfährt, wird ihm die Bedeutung dieser Vision klar: Der heilige Franz hatte seine geliebte Tochter und geistliche Mutter zugleich im Himmel aufgenommen. Wenn Franz und Johanna Franziska „eines der innigsten und inspiriertesten geistlichen Paare waren …, welche die katholische Kirche kennt“ (Vatican-Magazin Juli 2013), dann darf man Vinzenz und Louise mit Recht als eines der schlagkräftigsten gemischten Doppel der Kirche bezeichnen. Gemeinsam schafften diese beiden, der Bauernsohn aus der Gascogne und die illegitime Tochter aus gutem Hause, das Unmögliche: Sie schufen ein Netzwerk der Nächstenliebe in der Sorge um Arme, Kranke, Findelkinder, Galeerensträflinge, Bürgerkriegsopfer und psychisch Kranke – ein Novum für das 17. Jahrhundert- , das heute noch besteht und in über 94 Ländern tätig ist. Die Kongregation der Barmherzigen Schwestern, auch Vinzentinerinnen genannt, inspirierte zahllose Frauen zum selbstlosen Dienst im Namen Christi, des Gekreuzigten, und sie inspiriert immer noch: Die selige Mutter Teresa von Kalkutta trat mit ihrem Werk der tätigen Nächstenliebe, für das sie 1979 den Friedensnobelpreis erhielt, in die Fußstapfen der beiden französischen Heiligen. Louise ist heute die Schutzpatronin der Sozialarbeiter und die Vinzentinerinnen gelten als der größte Frauenorden der Welt.
Vinzenz von Paul, geboren am 24. April 1581 in Pouy, dem heutigen St. Vincent de Paul, war als junger Mann in erster Linie an einem sicheren Posten als Pfarrer auf dem Lande interessiert und wurde im Jahr 1600 im Alter von nur 19 Jahren zum Priester geweiht. Vinzenz hatte damals nicht nur Probleme mit der persönlichen Demut, sondern auch mit Frauen. Zudem musste er einige Jahre der Glaubensfinsternis durchleiden, bis er durch die Entscheidung, sich den Kranken und Armen zuzuwenden, geistlichen Frieden und spirituelles Wachstum erlangte. Vorher aber widerfuhr ihm das grausame Schicksal, von nordafrikanischen Piraten entführt und in die Sklaverei nach Tunesien verkauft zu werden. Wir wissen wenig über diese Zeit, entweder sprach er nicht gerne darüber oder seine Aufzeichnungen dazu gingen verloren: 1789 wurde der größte Teil seines Nachlasses während der revolutionären Wirren zerstört.
Bekannt ist, dass einer seiner ersten Besitzer ein Alchemist war, in dessen Labor er wohl mithelfen musste und sich so einige Grundlagen der Alchemie aneignete. Sein letzter Herr war ein zum islamischen Glauben übergetretener Christ, der mit mehreren Frauen zusammenlebte. Vinzenz berührte das Herz einer dieser Frauen durch seine gewinnende, immer fröhliche und zuversichtliche Art, seinen frommen Gesang und sein heiteres Wesen. Das Unwahrscheinliche gelang: Er konnte den abgefallenen Christen re-konvertieren und trat mit ihm zusammen die abenteuerliche Flucht übers Meer nach Avignon an. Zurück in Paris wartete eine steile Karriere auf ihn: 1608 erhält er das Amt des Almosenverteilers von Margaretha von Valois und machte Bekanntschaft mit dem späteren Kardinal Pierre de Bérulle und dessen Priestergemeinschaft, die dieser nach dem Vorbild des heiligen Filip Neri als Oratorium gegründet hatte. 1612 überträgt man Vinzenz die Pfarrei von Clichy, eine kurze, aber bedeutende Phase seines Lebens, in der er seine Berufung als Priester entdeckt und diesen Dienst nicht mehr nur als bequeme Einkommensquelle begreifen lernt. Schon ein Jahr später tritt Vinzenz eine Stelle als Hauslehrer bei der adligen Familie de Gondi an, der er auch als Pfarrer von Châtillon-les-Dombes verbunden bleiben wird. In dieser Pfarre zündet auch der Funke, der später ganz Frankreich umwälzen wird: Auf die erschütternde Nachricht, dass im Dorf eine ganze Familie schwer erkrankt sei, hält er eine aufrüttelnde Predigt, die unvermittelt ihre segensreiche Wirkung zeitigt: Die ganze Gemeinde ist jetzt auf den Beinen, um Decken, Medizin, Nahrungsmittel und frische Wäsche zu den Kranken zu bringen. Es schlägt die Stunde der Gründung der ersten Charité-Gemeinschaft. Ein Jahr später, 1618, kommt es zu der denkwürdigen und segensreichen Begegnung mit Franz von Sales in Paris. Vinzenz ist so beeindruckt von der Vollkommenheit dieses Mannes, dass er später als Zeuge beim Seligsprechungsprozess aussagt: „Ich sah in ihm den Menschen, der am besten den Sohn Gottes auf Erden nachahmte … Seine Sanftmut und Güte griffen auf jene über, die die Gunst seiner Gespräche erfahren durften, und ich zählte mich zu diesen.“ Doch es gab noch ein weiteres, einschneidendes Ereignis, das dieses Jahr prägte: Wenn Papst Franziskus vom „Hinausgehen in die existentiellen Randgebiete“ spricht, das in der Kirche des 21. Jahrhundert mehr als notwendig geworden sei, dann hat der heilige Vinzenz diesen Imperativ schon vor vier Jahrhunderten verstanden und in die Tat umgesetzt.
Nicht nur, dass er zu den Kranken, den Leprösen, sogar den „Irrsinnigen“ ging, die unter verheerenden Bedingungen vor sich hin vegetierten, um ihnen ihr Leben zu erleichtern und sie geistlich zu betreuen, er kümmerte sich auch um die Verfemten: Das Familienoberhaupt der de Gondis war zugleich der General der Galeeren. So machte Vinzenz Bekanntschaft mit dem verzweifelten und menschenunwürdigen Los derjenigen, die zwar einer Hinrichtung, und somit einem schnellen Tode entgingen, doch dafür langsam und fast unentrinnbar auf den Ruderbänken der Galeeren krepierten. Die Zustände dort waren derart unerträglich, dass manch Historiker heute von „schwimmenden Konzentrationslagern“ des 17. Jahrhundert spricht. Vinzenz besuchte regelmäßig Galeerensklaven in Paris und wurde 1619 offiziell zum Galeerenseelsorger ernannt.
Neben all diesen Aufgaben vergaß er auch nicht die geistlich Armen, die Landbevölkerung, die von einem verlotterten Klerus vernachlässigt worden war. Um in diese Randgebiete vorzustoßen, gründete er die Kongregation der Mission, deren Priester sich dazu verpflichteten, in der Gemeinschaft zu leben und ohne Entgelt oder Wahrnehmungen eines kirchlichen Amtes auf dem Lande predigten und Beichte hörten, sowie den Galeerensklaven, die Vinzenz mittlerweile besonders am Herzen lagen, Beistand leisteten. Sie hatten einen solchen Erfolg mit ihren Missionen, dass in einer einzigen Pfarrei insgesamt 5000 Menschen die Generalbeichte ablegten. In zahlreichen Regionen, in denen noch die Blutrache herrschte wie in Italien oder Korsika, konnten diese Priester Frieden und Versöhnung stiften.
1625, das Jahr der Gründung der „Lazaristen“ oder „Vinzentiner“ war auch das Jahr, in dem er die Seelenführung von Louise de Marillac übernahm. Sie war am 12. August 1591 als uneheliche Tochter des Louis de Marillac zu Welt gekommen, der einer einflussreichen Familie entstammte. Obwohl ihr Vater sie anerkannte, wurde sie im Hause de Marillac nicht gerne gesehen und schon früh zur Erziehung in das Dominikanerinnenkloster von Poissy gegeben, wo sie eine für die damalige Zeit hervorragende Ausbildung erhielt. Louises war nicht nur hochbegabt, sie war auch äußerst sensibel und die Ablehnung ihres Vaters, der sie zwar innig liebte, aber sich nicht gegen seine damalige Ehefrau durchsetzen konnte, hat sie zutiefst geprägt. Es liegt auf der Hand, dass eine solche verletzte und verstoßene Seele Probleme damit haben könnte, an einen gütigen und barmherzigen, einen bedingungslos liebenden Vater-Gott zu glauben.
Hans Kühner schreibt über sie: „Hochbegabt als Dichterin, Malerin, Übersetzerin von Bußpsalmen und Kommentaren zum Hohelied, war Louise de Marillac von religiösen Skrupeln erfüllt, derer keiner der klugen Köpfe, die sie berieten, Herr zu werden vermochten und die auch Vinzenz noch oft Sorge, sogar wirklichen Ärger bereiten sollten.“
Nach dem Tode ihres Vaters gibt man sie zur Vervollkommnung ihrer Ausbildung in eine Art Mädchenpensionat, deren Leiterin sie fortan in der Haushaltsführung beisteht. Die körperliche Arbeit in Küche und Keller, in der Wartung der Zimmer, das Anfertigen von Handarbeiten, durch deren Verkauf sie die wirtschaftliche Situation des Internats aufbessern kann, tun ihr gut. Dort fasst sie auch den Entschluss, Kapuzinerin zu werden und gottgefälliges Leben in Armut, Demut, Gehorsam, angefüllt mit harter Arbeit zu führen. Doch man hält sie dort nicht für geeignet und so erfährt sie einmal mehr in ihrem jungen Leben die Schmerzen des Abgelehntseins durch andere Menschen. Im Jahr darauf verheiratet man sie mit Antoine Le Gras, der zwar das vornehme Amt des Sekretärs der Königinmutter Maria de Medici versieht und recht wohlhabend ist, jedoch von niederer Abkunft. Trotz ihrer Pflichten als Hausfrau und Mutter eines Sohnes führt sie ihr streng geregeltes geistliches Leben fort. Sie betet nicht nur, pflegt Andachten und geistliche Betrachtung, sondern geißelt sich auch und trägt einen Bußgürtel.
Eine der ersten Maßnahmen, die Vinzenz ergreift, nachdem er 1624 ihr Seelenführer geworden ist, ist die Dämpfung ihres religiösen Übereifers: Er erlaubt ihr nur noch wenige Male in der Woche die Geißelung und befiehlt ihr, einen weniger schartigen Bußgürtel zu tragen. Ein Jahr zuvor ist ihr Mann schwer erkrankt – sie gibt sich und ihren angeblichen Sünden, auf die sie äußerst fixiert ist, die Schuld daran und ist überzeugt, es handle sich um eine Strafe Gottes.
Nach dem Tode ihres Mannes am 21.12.1625 will sie einerseits geistliche Gelübde ablegen, ist aber gleichzeitig noch nicht sicher, worin ihre Berufung besteht, an welchem Platz Gott sie haben will. Nach den ersten Besuchen der von Vinzenz ins Leben gerufenen Charité-Gruppen im Jahre 1629 nimmt der Plan Gottes mit ihr schärfere Konturen an. Sie erweist sich als einfühlsame Visitatorin, begabte Organisatorin und Vermittlerin bei Problemen mit den örtlichen Autoritäten und den Frauen untereinander – und sie hat das notwendige rhetorische Feuer und die mitreißende Überzeugungskraft, um in kurzer Zeit zahlreiche neue Ortsgruppen ins Leben zu rufen. Vinzenz ist begeistert, er nennt sie die „starke Frau“ aus dem Buch der Sprüche, „wertvoller als viele Juwelen“, und er weiß, dass er ihr sein Werk anvertrauen kann: Die Gründung der Barmherzigen Schwestern.
1633 nehmen sie die ersten Postulantinnen auf. Einen Orden, der solcherart in der Welt behaust war, – die Losung lautete in Anspielung auf die fehlende Klausur der Barmherzigen Schwestern „Gott verlassen um Gottes Willen“- hatte es zuvor noch niemals gegeben. Vinzenz beschreibt es den Frauen so: Ihr habt „als Kloster nur die Häuser der Kranken, als Zelle nur ein gemietetes Zimmer, als Kapelle die Pfarrkirche, als Kreuzgang die Straßen der Stadt oder die Säle der Hospitäler, als Klausur den Gehorsam, als Chorgitter die Gottesfurcht und als Schleier die heilige Bescheidenheit.“
Bis zum Jahre 1640 wird es mehr als vierzig Neugründungen der Barmherzigen Schwestern geben. Sie übernehmen die Sorge für Findelkinder, um die sich damals niemand scherte. Innerhalb von 6 Jahren nehmen die Schwestern 1.200 Findelkinder auf und retten diese kleinen Seelen vor einem Leben in Elend, Not und vor einem frühen und grausamen Tod. Sie geben den Armen zu essen, alleine in der Pariser St. Paulus Pfarrei teilen eine Handvoll Schwestern täglich an 5.000 Bedürftige Suppe aus. Sie lindern das Leid der Patienten in den Krankenhäusern, die zusammengepfercht unter unvorstellbaren Bedingungen in ihren eigenen Exkrementen, in Blut und Eiter liegen. Sie gründen ein eigenes Spital für Bettler und versorgen die Galeerensklaven. Dabei leiden sie unter böswilligen Verleumdungen, werden zu Kriegsopfern und stecken sich bei der selbstlosen Pflege von Pestkranken an. Doch nicht einmal die „Fronde“, der Bürgerkrieg, der von 1648 bis 1653 tobt, kann die ungeheuerliche Wucht dieser Frauen-Bewegung, die glüht vor Hingabe und Liebe an den gekreuzigten Jesus und an die Armen, das Erbteil seiner Kirche, aufhalten.
Louise und Vinzenz halten täglich Kontakt, wenn nicht in der persönlichen Begegnung, so durch Briefe, bis zu ihrem Tod am 15. März 1660. Vinzenz wird noch an einer Konferenz über die Tugenden seiner geistlichen Tochter, die ihm vielmehr eine getreue Partnerin war, teilnehmen und im gleichen Jahr, am 27. September, selbst zum Vater heimgehen. In der Beschäftigung mit dem Leben dieser beiden Heiligen und ihrer Spiritualität gewinnt das manchmal etwas abstrakt klingende Papstwort vom „Hinausgehen in die Peripherien“ Fleisch und Blut, Bedeutung und Leben.
September 27, 2017 No Comments
Zum 50. Todestag von Adrienne von Speyr am 17. September 2017
Mein Artikel aus der Rubrik „Geistliche Paare“ über Hans-Urs von Balthasar und Adrienne von Speyr, der im Oktoberheft 2016 des Vatican-Magazins erschienen ist:
Das letzte Universalgenie der abendländischen Geschichte hat man ihn genannt, mit einem Werk, das – mit den Worten Egon Bisers – als ein „herrliches Gebirgsmassiv“ dasteht: Den gebürtigen Luzerner Hans-Urs von Balthasar, der erst auf Umwegen zur Theologie kam. Zunächst studierte der Jesuitenzögling ab 1923 Germanistik und Philosophie und promovierte 1928 mit summa cum laude über die „Geschichte des eschatologischen Problems in der modernen deutschen Literatur“.
Die Literatur, vor allem das Theater, wird später, nach seinem zweiten Studium der Theologie, dem er sich Anfang der Dreißiger Jahre widmet, – er ist zu diesem Zeitpunkt schon in die Gesellschaft Jesu eingetreten –, für die Entfaltung seiner theologischen Hauptwerke ebenso wie die Musik eine fundamentale Rolle spielen. Vor allem Mozart begeistert ihn als seinen „unverrückbaren Polarstern“ – und es wird dazu kommen, dass er alle Partituren und alle Aufzeichnungen von Mozartstücken wegschenkt, weil er sie so verinnerlicht mit sich trägt, dass er diese Äußerlichkeiten nicht mehr braucht.
Zwei Jahre lang war er Redakteur der Zeitschrift seines Ordens, der „Stimme der Zeit“, ab 1940 dann an der Universität Basel als Seelsorger für Studenten und Akademiker tätig. Dort lernte er auch im selben Jahr Adrienne von Speyr kennen, die Ehefrau eines Dozenten, welche bei ihm die Vorbereitung auf den Eintritt in die katholische Kirche, ihr Katechumenat, absolvieren wollte.
Die nur wenige Jahre ältere Adrienne wuchs in der protestantischen Familie eines Basler Augenarztes auf, dessen Vorbild sie nacheifern und Ärztin werden wollte. Seit frühester Kindheit befand sie sich im Dialog mit einem Engel, mit sechs Jahren begegnet ihr in einer Schauung zum ersten Mal Ignatius von Loyola, was ihr erst im Nachhinein bewusst wird. Als junges Mädchen, sie hat gerade ihren 15. Geburtstag gefeiert, in den umliegenden Ländern tobt der Erste Weltkrieg und im fernen Fatima ist drei Hirtenkindern die Muttergottes erschienen, haben gerade Tausende von Menschen ein Sonnenwunder dort erlebt und bezeugt, sieht Adrienne zum ersten Mal die Jungfrau Maria, umgeben von einer Unzahl von Heiligen und Engeln. Gleichzeitig fühlt sie ein immer unstillbarer werdendes Bedürfnis nach der sakramentalen Beichte in sich aufwachsen. Dass dies alles recht ungewöhnlich für ein protestantisches Mädchen ist, bemerkt sie freilich selbst.
Nach außen hin wirkt sie anziehend und lebensfroh, ist erfolgreich in der Schule und später beim Studium, beliebt bei ihren Kameraden und Kommilitonen. Die größte Hürde, die sie während dieser Zeit zu nehmen hat, neben dem beharrlichen Widerstand ihrer Mutter gegen ihren Berufswunsch, ist vermutlich der Abscheu vor dem Seziersaal. Doch mit Hilfe ihres tiefen Glaubens kann sie auch diese überwinden, in dem sie unablässig für die Seelen der Toten, die sie sezieren muss, betet.
Nach dem Abschluss ihres Studiums scheint zunächst alles gut zu gehen, sie eröffnet eine eigene Praxis, in der sie arme Menschen auch umsonst behandelt und heiratet 1934 den Historiker Emil Dürr, dessen plötzlicher Tod sie nur schwer verkraftet. Zwei Jahre später folgt ihre zweite Heirat mit seinem Nachfolger Werner Kaegi, ebenfalls Geschichtsprofessor in Basel. Doch der Tod ihres ersten Mannes ist nur äußerlich überwunden, innen bricht sich bei dieser merkwürdigen protestantischen Mystikerin eine spirituelle Krise Bahn, die sich in einer schweren Herzattacke somatisiert.
Kurz danach kommt es zur ersten Begegnung mit von Balthasar. Er schreibt: „Gegen Herbst 1940 (ich war zu Beginn des Jahres als Studentenseelsorger nach Basel gekommen), nachdem Adrienne von einer schweren Herzattacke aus dem Spital zurückgekehrt war, sprachen wir auf der Terrasse über dem Rhein – ein gemeinsamer Freund hatte die Begegnung vermittelt – über die katholischen Dichter Claudel und Péguy, die ich eben übersetzte. Ihren Mut zusammenraffend erklärte sie mir, sie möchte auch katholisch werden. Bald darauf sprachen wir über ihr Gebet (…)“
Adrienne vertraut dem priesterlichen Freund, der schließlich zu ihrem Seelenführer und geistlichen Gefährten werden wird an, dass es ihr seit einiger Zeit unmöglich sei, das Vaterunser zu beten, ein Gebet, das sie bis zu dem Tode ihres ersten Mannes sehr geliebt habe – und zwar wegen der Zeile „Dein Wille geschehe“!
Von Balthasar legt ihr diese Bitte aus dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat, so verständig aus, dass es ihm scheint, als hätte er einen Schalter in seiner Gesprächspartnerin umgelegt:“(….) als hätte ich unversehens auf einen elektrischen Knopf gedrückt, der auf einen Schlag alle Lichter im Saal entzündete. Adrienne war von allem Hemmenden losgekettet, ihr Gebet begann sie wie lang aufgestaute Fluten fortzureißen. Im Unterricht verstand sie alles sofort, als hätte sie nur – und wie lang! – darauf gewartet, gerade dies zu hören, um es zu bejahen. Sie wurde am Fest Allerheiligen getauft (…)“
Tatsächlich hatte Adrienne zu allen Heiligen einen besonderen Bezug, oft „schaute“ sie deren Gebetshaltungen und -weisen. Hinzu kamen kurz nach ihrer Taufe immer mehr Passionen, in denen sie das Leiden Jesu durchlitt, sie die Stigmata vorübergehend empfing und deren Höhepunkt stets in der „Karsamstagserfahrung“ gipfelte. Von Balthasar begann sie während ihrer Schauungen ab 1943 eine Einführung in das Johannesevangelium“ zu diktieren – seine Theologie wurde zunehmend und derart von Adrienne beeinflusst, dass immer mehr Kollegen ihr Befremden und ihre Irritation über die Tatsache äußerten, dass von Balthasar zudem auch noch gemeinsam mit dem Ehepaar von Speyr-Kaegi unter einem Dach lebte, immerhin 15 Jahre von den insgesamt 27 Jahren der gemeinsamen Arbeit. Insbesondere seine Ordensoberen fühlten sich von dieser Beziehung derart skandalisiert, dass sie ihn vor die Entscheidung stellten, entweder die Zusammenarbeit mit Adrienne weiterzuführen und den Orden zu verlassen oder im Gehorsam gegenüber seinen Gelübden die Verbindung zu Adrienne abzubrechen. Mittlerweile nimmt auch der Bischof an ihm Anstoß. Selbst gute Freunde halten Adriennes Schauungen für illusorisch, für eingebildete Zustände und einen „holier than thou“-Größenwahn, den der Theologe teile und unterstütze.
Doch für von Balthasar ist glasklar, dass es sich hier um einen göttlichen Auftrag handle, den er mit Adrienne zu erfüllen hat: Zunächst gründen sie fünf Jahre nach ihrem ersten Treffen die Johannesgemeinschaft, ein Säkularinstitut zunächst für Frauen; Johannes war Adriennes Lieblingsheiliger und sie hatte einen besonderen Bezug zu ihm. Er wird später in den 80er Jahren diese Mission in dem Büchlein „Unser Auftrag“ genauer beschreiben, um, wie er sagt „zu verhindern, dass nach meinem Tod der Versuch unternommen wird, mein Werk von dem Adriennes von Speyr zu trennen.“ In dieser Zeit entsteht dann auch der Priesterzweig dieser Gemeinschaft.
Der Austritt aus dem Orden, den er immer als geistige Heirat betrachtet hatte, ist ihm sehr schwer gefallen, doch seine Überzeugung, Gott gehorsamer sein zu müssen als seinen Ordensoberen war unverrückbar und wurde von Adrienne gestützt – gegen eine Seherin, die ungezwungen Umgang mit dem heiligen Ignatius von Loyola pflegte, hatte die Gesellschaft Jesu einfach die schlechteren Karten. 1952 erscheint sein Werk „Die Schleifung der Bastionen“, das wie ein Befreiungsschlag wirkte, ein persönlicher ebenso wie einer innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft.
Bei aller verständlichen Skepsis gegenüber Adriennes Zuständen: Es handelt sich um ein kirchliches Erfolgsmodell, weibliche Prophetie mit männlichem Intellekt und Seelenführerschaft zu verbinden: Angefangen von Hildegard von Bingen und ihrem Volmar über Angela von Foligno und ihren Seelenführer Arnaldo, Theresa von Avila und Johannes vom Kreuz, Franz von Sales und Jeanne de Chantal bis hin zu Anna Katharina Emmerick und Clemens Brentano. Doch die Kirche befand sich mittlerweile in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war zu „aufgeklärt“ für diese Form gemeinsamer Berufung. Von Balthasar hatte sich nach dem Tode Adriennes – zu diesem Zeitpunkt liegen bereits 34 ihrer Bücher in Druckform vor – viele Gedanken über dieses Thema gemacht und sich dabei von dem innerkirchlich immer noch umstrittenen Teilhard de Chardin inspirieren lassen, der die „männlichen und weiblichen Teile der Natur“ als vereinigte Paare zu Gott aufsteigen sah. Hans Urs von Balthasar schreibt 1977 von den paarweise Berufenen, dass sie „zwei in einem Rufe“ seien, für die gelte, was auch über die natürliche Verbindung zwischen Mann und Frau geschrieben steht: „Was Gott vereint hat, darf der Mensch nicht trennen.“
Der Jahrhunderttheologe und Mozartliebhaber Joseph Ratzinger, der, was die Herrlichkeit und Weite seines Werkes betrifft, wohl Hans Urs von Balthasar auf Augenhöhe begegnet – und mit ihm gemeinsam u.a. die Zeitschrift „Communio“ begründete, hat es in einem 1999 gegebenen Interview wie folgt trefflich beschrieben:
„Hans Urs von Balthasar ist undenkbar ohne Adrienne von Speyr. Ich glaube, man könnte bei allen wirklich großen theologischen Gestalten zeigen, dass neue theologische Aufbrüche nur dann ermöglicht werden, wenn zuerst ein prophetischer Durchbruch da ist. (…) die eigentlichen Durchbrüche, in denen dann wieder große Theologie neu entsteht, kommen nicht einfach aus dem rationalen Geschäft der Theologie, sondern aus einem charismatischen, prophetischen Anstoß heraus. (…) Die Theologie als wissenschaftliche Theologie im strengen Sinne ist nicht prophetisch, aber sie wird nur wirklich lebendige Theologie, wenn sie von einem prophetischen Impuls angeschoben und erleuchtet ist.“
Von Balthasars Tod erfolgt schließlich unter ähnlich signifikanten Umständen wie derjenige Adriennes, die am Tag der heiligen Hildegard von Bingen, einer Ärztin und Seherin, wie sie selbst eine war im Jahre 1967 starb. Der Ex-Jesuit und Theologe, der niemals einen Lehrstuhl innehatte, der große Universalgelehrte und Literaturliebhaber, den niemand zum Zweiten Vatikanischen Konzil als Berater eingeladen hatte, er sollte eine – wahrscheinlich die größte Ehrung erhalten, die ein Papst vergeben kann: Der polnische Papst, selbst ein großer Frauenfreund und überzeugt von der Dualität und Komplementarität der Berufungen von Mann und Frau in der Kirche, ernannte ihn zum Kardinal, zu einem Prinzen der Kirche. Doch nur zwei Tage vor der Kreiierungszeremonie verstarb von Balthasar schicksalhaft am 26. Juni 1988 in Basel, knapp 20 Jahre nach Adrienne. Aufgabe der Nachwelt könnte es sein, immer neu zu versuchen, deren Werk und das von Balthasars in Synthese und kongruent zu rezipieren und so abschließend zur Vollendung zu bringen.
September 15, 2017 1 Comment
Titelthema Vatican Magazin März 2017:“Mit dem Papsttum spielt man nicht“
Aus dem Artikel von Guido Horst:
„[…] Leute wie Roberto de Mattei werden von Internetdiensten wie „katholisches.info“ ins Deutsche übersetzt und wen wundert es, dass die Schlammspritzer der Papst-Debatte auch den deutschen Sprachraum erreichen.
Ausdruck dafür war der „Weckruf 2017“ deutschsprachiger Publizisten, den das Onlinemagazin „The Cathwalk“ vor einiger Zeit veröffentlicht hat. Hier wird der Papst verteidigt, Ubi Petrus ibi ecclesia heißt es gleich zu Beginn, und am Ende steht der Aufruf an alle publizistisch tätigen Katholiken, „sich der Kampagne, die gegen unseren Heiligen Vater im Gange ist, entschieden zu widersetzen und dem grassierenden Defätismus und Destruktivismus eine Berichterstattung entgegenzusetzen, die von Liebe und Wohlwollen zu unserem Papst durchdrungen ist.“ Ausdrücklich begrüßen die Verfasser „Amoris laetitia“ als ein „Geschenk des Heiligen Geistes“, das „die Tore der Barmherzigkeit weit geöffnet hat“, und distanzieren sich ebenso ausdrücklich „von den sogenannten ‚dubia‘, die suggerieren, ‚Amoris Laetitia‘ stelle einen Bruch des Lehramtes hinsichtlich der Ehepastoral dar“.Ein Dokument der Verteidigung des Jesuiten-Papstes, so weit so gut, aber wenn Leute wie Roberto de Mattei einen Franziskus-Popanz aufbauen, auf den sie dann einschlagen, so baut der „Weckruf 2017“ einen anderen Popanz auf, den des hemmungslosen Papstkritikers, der als „pathologisches Phänomen“ Ausdruck einer argwöhnischen und pessimistischen Mentalität sei, „die sich im katholischen konservativen Lager in den letzten Jahren eingeschlichen hat, und die nur allzu gut ins Zeitalter von Fake News und Populismus zu passen scheint“. Der Feind steht rechts vermutet der „Weckruf“: und zwar „eine Großzahl katholischer Publizisten“, die sich „nicht davor zurückscheut, Papst Franziskus der Häresie zu bezichtigen“, und populistische „Einheizer im Hintergrund“, die „sich gegenseitig in einem immer starreren Rigorismus und Rubrizismus“ übertrumpfen.
Das ist Schwarz-Weiß-Malerei pur. Eine Moralkeule für alle, die sich etwa sauber und korrekt, aber doch auch kritisch mit „Amoris laetitia“ auseinandersetzen, also eine Debatte führen, zu der Papst Franziskus selbst eingeladen hat. Wieder einmal scheint es für einige grobschnittig veranlagte Zeitgenossen nur ein Schema zu geben, nach dem die Katholiken einzuteilen sind: hier die Guten, dort die Bösen, hier die Papstjubler, dort die finsteren Einheizer aus dem konservativen Lager, die in pathologischer Manier den Papst der Häresie bezichtigen. Ein Zerrbild, das nicht falscher sein könnte.“
März 11, 2017 No Comments
Zum Tag der heiligen Hildegard von Bingen
Es hat fast 800 Jahre gedauert und einen deutschen Papst gebraucht, bis die heilige Hildegard von Bingen in einem Ausnahmeverfahren, das sich “gleichwertige Kanonisierung” nennt, nun offiziell „heilig“ ist und somit nun von der gesamten Weltkirche verehrt wird. Benedikt XVI. hat mit seinem Beschluss vom 10. Mai 2012, dass die Verehrung der Heiligen auf die gesamte Weltkirche auszudehnen ist – eine Entscheidung, die nicht nur längst überfällig war, sondern auch zeigt, welch hohen Stellenwert Benedikt der deutschen Äbtissin, Visionärin, Komponistin und Kirchenkritikerin beimisst. Wertschätzung, ja Bewunderung, die er zuvor schon zu einigen wenigen, aber äußerst bedeutsamen Anlässen geäußert hatte.
Selbst wenn man mit Leben und Werk der Hildegard von Bingen nur oberflächlich vertraut ist, bleibt uns angesichts ihrer universalen Schaffenskraft, der Kühnheit ihrer Visionen, die sie stets bei klarem Verstand und offenen Auges erfuhr, des prophetischen Löwenmuts, den sie ohne zu zögern gegen die Mächtigen im Klerus und sogar gegen den Kaiser einsetzte, nur schieres Staunen und tiefe Dankbarkeit über diese die Jahrhunderte überstrahlende Heilige. „Wer ist die, die da aus der Wüste gleich einer Rauchsäule von Gewürzkräutern aufsteigt?“ so ruft Papst Eugen III in einem Brief an Hildegard aus, und muss dabei, um seine faszinierte Verehrung auszudrücken, auf das Hohelied, das poetischste Liebeslied aller Zeiten, zurückgreifen.
Sie war die letzte Prophetin, die Deutschland geschickt wurde, eine Persönlichkeit, die mit traumwandlerischer Sicherheit, dabei luzide und klar wie ein lupenreiner Diamant das Wort Gottes verkündete und als „ungelehrte Frau“, als „armseliges Gebilde“ die größten Männer ihrer Zeit mit göttlicher Vollmacht belehrte, den Kampf mit den Kleingeistigen beherzt aufnahm. Hildegard betätigte sich auf einem breiten Spektrum der damaligen Wissensgebiete: Theologie, Kosmologie, Anthropologie, Musik, der Heilkunst, der Erforschung von Naturphänomenen – sie erfand sogar eine eigene geheime Sprache, die lingua ignota. Hildegard von Bingen kann deshalb mit Fug und Recht als die erste deutsche Universalgelehrtin gelten, die jüngst vom Osservatore Romano in einem Atemzug mit Dante, Avicenna und Johannes Scotus Eriugena genannt wurde, somit noch einmal die Bedeutung dieser „wahren Intellektuellen“ ihrer Zeit unterstreicht, die sie für den derzeitigen Papst sozusagen als eine Seelenschwester, zu besitzen scheint.
Die Geschichte dieser Frau, die bei ihren Zeitgenossen Ehrfurcht und Bewunderung erweckte, die mit von Gott verliehener Autorität auftrat und deren Kompositionen und Schriften noch heute Bestseller sind, beginnt im Jahre 1098, zur Zeit des ersten Kreuzzuges. Hildegard wird als zehntes Kind in Bermersheim bei Alzey geboren. Ihre Eltern gehören dem niedrigen Adel an und geben das Mädchen im Alter von 8 Jahren zur gemeinsamen Erziehung in die Grafenfamilie derer von Sponheim. Hildegard ist 14, Jutta von Sponheim 20 Jahre alt, als sie sich auf den Berg des heiligen Disibod am Zusammenfluss von Nahe und Glan bei Odernheim zurückziehen. Auf dem Gelände des Klosters, das von Benediktinermönchen besiedelt wurde, hatte die Familie von Sponheim eine Frauenklause errichten lassen. Dort verbringt Hildegard fast die Hälfte ihres Lebens in völliger Abgeschiedenheit, gestorben und begraben mit Christus. Wie ein Senfkorn, das der Herr in die Erde gelegt hat, auf dass es eines Tages erwache und ein Baum daraus werde, der bis zum Himmel wächst, und in dessen Zweigen singende Vögel nisten werden.
Der Tag kommt im Jahre 1140, als sie „42 Jahre und 7 Monate“ zählt, wie sie selbst schreibt. Seit vier Jahren ist ihre geistliche Mutter Jutta tot, die Gemeinschaft der mittlerweile zehn Schwestern hatte sie damals einstimmig zur Priorin gewählt. Die Visionen, die sie schon in ihrer Kindheit erfahren hat, setzen wieder ein. Sie bespricht sich zunächst mit dem Abt; er rät, alles niederzuschreiben. Doch die Unsicherheit und die Zweifel nagen an ihr: Hildegard besaß neben ihren außergewöhnlichen intellektuellen und spirituellen Gaben eine ausgeprägte persönliche Demut, hinzu kam, dass die deutschen Bischöfe ihr zum Teil nicht gerade mit Wohlwollen, sondern mit großer Skepsis begegneten. Sie fasst sich deshalb ein Herz und wendet sich in ihrem ersten, überlieferten Brief an den Mann, der zur damaligen Zeit als die einflussreichste und anerkannteste geistliche Autorität galt – den inspirierten monastischen Erneuerer und mitreißenden Prediger Bernhard von Clairvaux. Der Tonfall dieses Briefes ist hochachtungsvoll und zärtlich zugleich; sie nennt Bernhard „Vater“ und schildert ihm den Charakter ihrer Visionen detailgenau. Aus ihren Formulierungen spricht tiefstes töchterliches Vertrauen: „Du bist Sieger in deiner Seele und richtest andere zum Heile auf. Du bist der Adler, der in die Sonne blickt.“
Die Antwort des heiligen Bernhard ist unmissverständlich und muss für Hildegard eine enorme Erleichterung gewesen sein: „Wir freuen uns mit dir über die Gnade Gottes, die in dir ist. Und was uns angeht, so ermahnen und beschwören wir dich, sie als Gnade zu erachten und ihr mit der ganzen Liebeskraft der Demut und Hingabe zu entsprechen.“ Während der Synode in Trier 1147 werden ihre Visionen sogar öffentlich verlesen und von Papst Eugen III. bestätigt. Nun darf sie endlich sicher sein, dass ihre Schau nicht ein Hirngespinst ist oder gar vom Gegenspieler kommt, sondern vom Allerhöchsten geschickt wird. Mehr noch, dass Er selbst es ist, der durch sie spricht. Sie ist sein Instrument, seine „Posaune“, wie sie sich selbst bezeichnet, durch die der göttliche Geisthauch weht und die Menschen behaucht. Und so manches Mal wird in Zukunft dieser Geisthauch gerade auch für die höchsten Machthaber wie Kaiser und Papst zu verzehrenden Flammenzungen werden. Etwa wenn Hildegard an Friedrich Barbarossa schreibt, weil er nicht aufhört, gegen den legitimen Papst Alexander III. Gegenpäpste aufzustellen. Sie spricht mit einer Vollmacht, die ihr der Schöpfer des Universums verliehen hat. Er ist es, der durch sie zu dem mächtigen Kaiser spricht und ihm mit Seinem Gericht droht: „Wehe, wehe der Niederträchtigkeit der Gottlosen, die mich beleidigen! Höre geschwind, o König, wenn du leben willst! Sonst wird mein Schwert dich durchbohren!“
Die prophetissa teutonica, wie man sie schon bald nennt, korrespondiert auch mit Prälaten und Päpsten. In einem Brief an Eugen III. aus dem Jahre 1148 nennt sie sich selbst eine kleine Feder, die vom Höchsten berührt worden ist, damit sie wunderbar emporfliege und die nun von einem starken Wind getragen wird, damit sie nicht sinke. Auch ihn wird sie mit strengen Worten ermahnen, als Gesandte desjenigen, der über jeder weltlichen Autorität steht: „O du funkelnde Brustwehr, kraft deines Amtes, ursprüngliche Wurzel der neuen Vermählung Christi mit der Kirche, du bist zweigeteilt: Einerseits ward deine Seele in der geheimnisvollen Blüte erneuert, die eine Gefährtin der Jungfräulichkeit im Mönchtum ist. Andererseits bist du ein Zweig der Kirche. Höre auf den, dessen Wort scharf wie ein Schwert ist …. Entferne nicht die Sehkraft vom Auge und trenne nicht das Licht vom Licht, sondern halte dich auf dem eindeutigen Weg, damit du nicht der Anklage verfällst wegen der Seelen, die in dein Herz gelegt sind.“
Wir begegnen dieser charakteristisch bildreichen und wortgewaltigen Sprache auch in ihren Hauptwerken: Scivias – Wisse die Wege, das in 35 Visionen die gesamte Heilsgeschichte durchdekliniert, vom Anbeginn der Zeit und der Schöpfung der Welt bis zum Ende aller Zeiten. Der Liber vitae meritorum, das Buch der Lebensverdienste, in dem es um die immense und alles überwältigende Kraft Gottes geht, der den gesamten Kosmos gestaltet und den Menschen zum Leben gerufen hat und in immerwährendem Austausch mit der Heiligen Dreifaltigkeit durchpulst wird. Aufgabe des Menschen ist es dabei, sich jeden Tag aufs Neue vom Bösen abzukehren und die Herrlichkeit Gottes in seiner eigenen Existenz so vorwegzunehmen.
Im Liber divinorum operum oder auch De operatione Dei geht es wiederum um die Schöpfung, das zentrale Thema Hildegards, die Beziehung zwischen dem Erschaffer des Alls, der Erde und seinem geliebten Geschöpf, dem Menschen.
Régine Pernoud, die französische Mediävistin, spricht im Zusammenhang mit den Werken Hildegards zutreffend von einer poetischen Kosmologie, einem kosmischen Roman. In der Tat, die Sprachmacht Hildegards ist überwältigend, obgleich sie angeblich nicht besonders gut Latein konnte, weshalb sie ihre Visionen dem Mönch Volkmar und später ihrer geliebten Mitschwester Richardis von Stade diktierte.
Angesichts des unerhörten Mutes, mit dem diese Äbtissin aus Deutschland als Botin Gottes den Machthabern ihrer Zeit entgegentrat, erscheint es wie trauriger Hohn, dass diese Frau nun in der Neuzeit durch esoterische Kreise auf Dinkelrezepte, Wellness-Elixiere und Heilsteinwissen heruntergebrochen und vermarktet wird. Mehr noch, eine Kirchenkritikerin sei sie gewesen, weiß vor allem die feministische Theologie anzuführen und in dieser Eigenschaft wird sie gerne auch von kirchlichen Reformkreisen vereinnahmt. Dabei wird gerne vergessen, dass es Hildegard nicht um die Veränderung von Strukturen ging, sondern um einen aufrichtigen Geist der Buße und den tätigen Weg der Umkehr, wie dies Benedikt XVI. in einer seiner beiden Katechesen über die Heilige erläutert hat.
Hildegard, die noch im hohen Alter auf Predigtreisen durch Deutschland ging, die sie unter anderem nach Trier, Köln, Mainz und bis nach Lothringen führten, geißelte nämlich nicht nur den trägen und verhurten Klerus ihrer Zeit vor aller Öffentlichkeit mit überaus harten Worten: „Ihr seid eine Nacht, die Finsternis ausatmet, und wie ein Volk, das nicht arbeitet. Ihr liegt am Boden und seid kein Halt für die Kirche, sondern ihr flieht in die Höhle eurer Lust. Und wegen eures ekelhaften Reichtums und Geizes sowie anderer Eitelkeiten unterweist ihr eure Untergebenen nicht. Ihr solltet eine Feuersäule sein, den Menschen vorausziehen und sie aufrufen, gute Werke zu tun.“ Mit ebensolcher Vehemenz predigte diese Frau gegen die Katharer an, die angesichts der Verweltlichung und des Verfalls im Klerus immer mehr Zulauf für ihre engstirnige Vorstellung von der „Kirche der Reinen“ bekamen.
Es ist deshalb kein Zufall, dass Benedikt XVI. diese Frau, dieses Kernkraftwerk des Heiligen Geistes, nun offiziell durch ein „canonisatio aequipollens“ genanntes Verfahren, per Dekret also, heilig gesprochen hat, obwohl sie schon immer als Heilige verehrt worden ist. Immer wieder hat er seine Wertschätzung, ja seine Verehrung für ihre Persönlichkeit, ihre Wirkung, ihre Kühnheit und ihren Mut ausgedrückt. Im Jahre 1994 sandte Kardinal Ratzinger eine Grußbotschaft zum Hildegard-Symposium in Wiesbaden und schrieb unter anderem: „Heute steht Hildegard in ihrer ganzen kühnen Universalität vor uns. Wir fühlen uns angesprochen durch ihre liebevolle Zuwendung zu den heilenden Kräften der Schöpfung wie durch ihre vielseitige künstlerische Begabung vor allem aber durch ihre eindringliche Glaubensverkündigung; sie ist uns daher nahe als eine Frau, die Christus in seiner Kirche liebte, aber nichts von Weltfremdheit oder Ängstlichkeit zeigt, sondern gerade von ihrer Berührung mit den Geheimnis Gottes her ihrer Zeit das rechte Wort furchtlos und frei zu sagen vermochte.“
Dass dieses „rechte Wort“ aus der Berührung mit dem Geheimnis Gottes auch unserer Zeit noch Gewaltiges zu sagen vermag, hat uns der Heilige Vater wieder zu Bewusstsein gebracht, indem er anlässlich des Weihnachtsempfangs für die Kardinäle und die Kurie am 20. Dezember 2010, dem Jahr, in dem der Missbrauchsskandal seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte, eine Vision Hildegards zitiert und interpretiert. Sie findet sich in einem Brief an Werner von Kirchheim und dessen Priestergemeinschaft, die sie bei ihrer letzten Missionsreise um das Jahr 1170 – sie stirbt 1179 – in Schwaben besucht hatte. Werner von Kirchheim hatte gebeten, ihre dort gehaltene Rede nochmals schriftlich für ihn und seine Mitbrüder festzuhalten. Es ist eine Schau aus dem gleichen Jahr, während dem sie eine Krankheit durchzustehen hatte. Vor ihren Augen ersteht eine unerhört schöne Frau, mit leuchtendem Antlitz und einer Gestalt, die von der Erde bis zum Himmel hinaufragt. Sie trägt ein strahlendes Gewand aus weißer Seide, einen Mantel, mit Edelsteinen besetzt und Schuhe aus Onyx. Doch das Antlitz der herrlichen Frau ist befleckt, ihre Kleidung zerfetzt, die Schuhe besudelt. Sie klagt und schreit deswegen zum Himmel:
„Und weiter sprach sie: Im Herzen des Vaters war ich verborgen, bis der Menschensohn, in Jungfräulichkeit empfangen und geboren, sein Blut vergoss. Mit diesem Blut, als seiner Mitgift, hat er mich sich vermählt.
Die Wundmale meines Bräutigams bleiben frisch und offen, solange die Sündenwunden der Menschen offen sind. Eben dieses Offenbleiben der Wunden Christi ist die Schuld der Priester. Mein Gewand zerreißen sie dadurch, dass sie Übertreter des Gesetzes, des Evangeliums und ihrer Priesterpflicht sind. Meinem Mantel nehmen sie den Glanz, da sie die ihnen auferlegten Vorschriften in allem vernachlässigen. Sie beschmutzen meine Schuhe, da sie die geraden, das heißt die harten und rauen Wege der Gerechtigkeit nicht einhalten und auch ihren Untergebenen kein gutes Beispiel geben.“
Der Papst erläutert diese Vision Hildegards vor den Kardinälen und der Kurie, knapp 840 Jahre nach der Niederschrift dieses Gesichts, und es ist so aktuell und zeitlos wie nie zu vor:
„Das Gesicht der Kirche ist in der Vision der heiligen Hildegard mit Staub bedeckt, und so haben wir es gesehen. Ihr Gewand ist zerrissen – durch die Schuld der Priester. So, wie sie es gesehen und gesagt hat, haben wir es in diesem Jahr erlebt. Wir müssen diese Demütigung als einen Anruf zur Wahrheit und als einen Ruf zur Erneuerung annehmen. Nur die Wahrheit rettet. Wir müssen fragen, was wir tun können, um geschehenes Unrecht so weit wie möglich gutzumachen. Wir müssen fragen, was in unserer Verkündigung, in unserer ganzen Weise, das Christsein zu gestalten, falsch war, dass solches geschehen konnte. Wir müssen zu einer neuen Entschiedenheit des Glaubens und des Guten finden. Wir müssen zur Buße fähig sein. Wir müssen uns mühen, in der Vorbereitung zum Priestertum alles zu versuchen, damit solches nicht wieder geschehen kann.“
Mit der Kanonisierung Hildegards im Mai 2012 hat der Heilige Vater offiziell gemacht, was alle schon immer wussten und geglaubt haben: Dass die Äbtissin und Gründerin von Rupertsberg und Eibingen eine Heilige ist. Zugleich aber zeigt diese Geste die andächtige Verbeugung eines zarten, weißhaarigen Mannes vor der größten intellektuellen Frau ihres Zeitalters. Nicht zuletzt bedeutet dieses Dekret auch die anerkennende Würdigung einer großartigen Verbündeten, die bereits vor 800 Jahren einen feurigen Kampf für die heilige Kirche führte – es ist derselbe, den dieser Papst entschlossen aufgenommen hat.
[Zuerst erschienen im Vatican-Magazin 2012 anlässlich der Kanonisierung der hl. Hildegard]
September 17, 2016 No Comments
Ausblick auf meine nächsten Veröffentlichungen
Im PUR-Magazin Februar 2015 ist ein Kurzporträt des Dominikanerordens erschienen, im Vatican-Magazin Februar 2015 (kommt Mitte des Monats) habe ich über die heilige Clothilde und Chlodwig, also die Merowinger und das Christentum geschrieben.
In Bälde sollte mein Interview mit Torsten Hartung („Du musst dran glauben“) plus Rezension seines unglaublich beeindruckenden Buches in der Tagespost erscheinen. Dort plane ich auch für die Reihe „Poeten, Priester und Propheten“ einen Beitrag über Karin Struck sowie über Paul Claudel.
Ich darf auch nochmal über die preisgünstige Möglichkeit hinweisen, die „Tagespost“ als ePaper für 14 Euro im Monat zu abonnieren.
Als nächster Orden im Kurzporträt ist dann der Karmel eingeplant, für das Vatican-Magazin als Heiligtum der besonderen Art die Basilika St. Kastor in Koblenz.
Februar 4, 2015 No Comments