Posts from — September 2023
Vorwort zu Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“
>> Niemandem wird geholfen, wenn die Regierung so lange wartet, bis die Menschen demonstrieren und streiken. All dem könnte man sehr gut durch sachlichen Dialog und durch den guten Willen, auch kritische Stimmen anzuhören, vorbeugen. Solchen Stimmen wurde kein Gehör geschenkt. So erntet die heutige Staatsmacht die Saat ihrer eigenen starren Haltung …
Ich hoffe immer noch, dass die Staatsmacht aufhört, sich wie das hässliche Mädchen zu verhalten, das den Spiegel zerschlägt, in der Meinung, er sei Schuld an ihrem Aussehen.
Václav Havel, 21. Februar 1989<<
Selten ein altes Buch aufgeschlagen und auf der ersten Seite schon einen solchen aktuellen Volltreffer vorgesetzt bekommen …
Übrigens habe ich Urgestein tatsächlich nur zehn Monate danach in Prag seine Antrittsrede gehört und ihn gesehen. Aber bald mehr dazu. Nur noch so viel: Wir haben auf dem Wenzelsplatz und dem Altstädter Ring getanzt und Bohemia-Sekt aus der Flasche gesoffen. Dabei Ať žije Havel! skandiert: Es lebe Havel oder auch Hoch lebe Havel. Und wir haben die Kerzen und Blumenberge gesehen: Die Samtene Revolution war so samten nicht, es gab etliche Todesopfer, in der ganzen Prager Innenstadt gab es dazu Stellen, ja richtige Hügelchen aus Kerzen und Blumen und Bildern.
Manchmal denke ich, das interessiert heute niemanden mehr.
September 19, 2023 3 Comments
Leserunde Tatjana Goritschewa: Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück
Eigentlich wollte ich es ja mit den beiden zurückliegenden Einträgen bewenden lassen, aber nun bin ich doch wieder auf eine Stelle gestoßen, die ich ungeheuer spannend fand. Denn die Autorin bereist Indien und trifft hier auf ein fast paralleles Phänomen dort zum russischen Gottesnarren – und der zählt zu meinen Interessens- und Themengebieten. Über die russischen Gottesnarren habe ich auch einmal schon für die Tagespost geschrieben und zwar hier.
Die Goritschewa schreibt:
>>Die Aghorisen sind unserem christlichen Gottesnarren in Russland ähnlich. Eine Frau, die unfruchtbar war, kam zu Kina Ramu, diese schlug sie dreimal, und innerhalb von drei Jahren gebar sie dreimal. (Iwan Jakowlewitsch Korejscha – ein bedeutender russischer Gottersnarr – schlug die Frau eines Kaufmanns mit einem Apfel, und sie wurde gesund.) Die Aghorisen scheinen verrückt zu sein, ihre Rede ist abgehackt, unverständlich. Manchmal ist es schwer zu unterscheiden, ob es sich um einen klinisch Verrückten oder um einen Aghorisen handelt. Im Krankenhaus für Aussätzige, das einer dieser Asketen baute, hängte er auch sein Porträt auf, auf diesem hat er sich selbst in ungezwungener Pose darstellen lassen – in der einen Hand ein Schnapsglas mit Likör, in der anderen Hand ein Stück Fleisch: Sowohl Likör als auch Fleisch sind für den Hindu etwas Unerhörtes. Ebenso wie die Gottesnarren schämen sich die Aghorisen nicht. Es kommt vor, dass der Lehrmeister jemanden segnet, weil er seine Notdurft geradewegs auf der Straße, vor den Augen aller verrichtet. Der Urin eines Aghorisen wird als Heilmittel angesehen. Der ganze Mensch ist rein und geheiligt (oder aber ganz in Sünde und Heuchelei). So handelten auch die Gottesnarren, die gegen die Heuchelei ankämpften. Die Gottesnarren warfen Steine gegen Kirchen und beteten gegen Kneipen gewandt. Aber damit hört auch die Ähnlichkeit zwischen den heiligen Toren in Christo und den Aghorisen schon auf.<<
September 18, 2023 No Comments
Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück. Ein weiterer Auszug
In diesem Buch schreibt die Goritschewa über ihre Begegnungen mit dem Glauben in vielen verschiedenen Ländern, die sie bereist hat. Im Dezember 1987 war sie in Nepal – dazu schreibt sie:
>> Eine Sache ist es, über Ahimsa zu lesen, und die andere ist es, dies mit eigenen Augen zu sehen: Die Menschen und die Tier hassen einander nicht. Ohne Streit überlassen sie einander den Platz unter der Sonne – wie heilsam das ist. Bei uns im Christentum empfinden nur die Heiligen und die Gottesnarren die Tiere auf diese Weise.Aber das Christentum ist doch nicht schlechter als der Hinduismus! Es gibt doch auch in unserer Tradition den Aufruf zur kosmischen Liebe, zum Mitleid. Warum ist bei uns das „liebende Herz“ in Vergessenheit geraten, das liebende Herz, das mit jedem Geschöpf mitfühlt und weint? Die heiligen Väter schreiben, dasss der Mensch im Paradies Herrscher, Prophet und Priester für alle Tiere war. Warum ist er heute zu einem so schamlosen und stumpfsinnigen Parasiten der natürlichen Welt geworden? [Diese hochaktuellen Zeilen wurden 1987 bereits geschrieben. Tatsächlich hat sich die Goritschewa in ihren späteren Jahren und nach ihrer Rückkehr nach Russland sehr stark und schwerpunktmäßig mit Ökologie und Bewahrung der Schöpfung beschäftigt.]
Denken wir an die kosmische Liturgie des heiligen Makarij des Großen und des heiligen Maximus Confessor. Haben wir weniger Grund als die Hindus, barmherzig zu sein? Oder weniger Anlass, die Idee der Kirchlichkeit auf kosmische Weise zu verstehen? Nicht einmal auf dem Basar hört man hier grobe Schreie. Und wenn in dem engen Raum einer mittelalterlichen Gasse zwei Kastenwagen aufeinanderstoßen, so werfen sich ihre Fahrer keine Schimpfworte an den Kopf, sondern sagen: Wir wollen denken, dass unser Zusammenstoß nicht wirklich war. Das ist der Schleier der Maja. Eine Harmonie zwischen Menschen verschiedener Herkunft [in Nepal gibt es eine Vielzahl von Nationen], zwischen Menschen und Tieren – das muss man erleben, eine Welt ohne Angst und Drohung. Schlafe ich wirklich nicht?<<
September 15, 2023 1 Comment
Tatjana Goritschewa – scharfe Kritikerin der deutschen katholischen Theologie
Ich lese zur Zeit ihre Werke – sie war eine zum Glauben gekommene russische Philosophin – und habe gemeinsam mit einer lieben Freundin, die mit ihr befreundet war und in engem Briefwechsel stand, einen Artikel über sie für die kommende Ausgabe des Vatican-Magazin geschrieben. Dass die osteuropäischen Dissidenten aus der Zeit des Kalten Krieges heute praktisch aktueller sind denn je, hat ja bereits Rod Dreher in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch „Lebt nicht mit der Lüge!“ festgestellt. Die folgende Passage aber hat mich aufhorchen lassen. Sie stammt aus ihrem Titel „Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück“:
„Die Zeit liegt lange hinter mir, als ich an einer theologischen Hochschule in Deutschland [Anm. BW: Sankt Georgen in Frankfurt] studierte und die Erfahrung machen musste, dass da mehr über Gott gelacht wurde, als dass man, von seiner Größe und Herrlichkeit ergriffen, seine Wirklichkeit verkündet hätte. … Ich fahre auch schon lange nicht mehr auf theologische oder exegetische Tagungen, wo etwa selbstzufriedene modernistische Exegeten mit gelehrter Miene beweisen wollen, dass es den „Stern von Bethlehem“ nie gegeben hat (interessant genug, woher sie das so genau wissen) und dass selbst „Bethlehem“ nie existiert hat. … „Dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, das haben sich doch die Evangelisten nur ausgedacht. Eine ergreifende Unwahrheit, wollten sie doch nur, dass die alten Prophezeiungen in Erfüllung gehen.“ Und weiter erzählte man uns, dass Isaak älter als Abraham war und folglich nicht sein Sohn sein konnte und dass es natürlich auch das Opfer des Abraham nicht gegeben hat.
Eine schreckliche Erinnerung habe ich an eine Versammlung, bei der die Teilnehmer überwiegend katholische Priester waren. Als ich von der Wichtigkeit des Kreuzes sprach („Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach“) stürzten sie sich auf mich wie auf eine Verbrecherin: „Das ist doch Masochismus.“ „Das Kreuz kam im Christentum erst sehr spät auf, die ersten Christen kamen auch ohne Kreuz aus“, so hielt man mir entgegen – aber die ersten Christen wurden eben auch gekreuzigt, deshalb brauchten sie das Symbol des Kreuzes nicht. …
„Was ist dann, Ihrer Meinung nach, das Ziel des christlichen Lebens?“, fragte ich diese gelehrten Männer. Eine Antwort: „Das Ziel ist, dass die ganze Gemeinde reich und gesund ist.“ Welch Primitivismus, welche Abgeschmacktheit! So weit sind nicht einmal die Bolschewiki heruntergekommen. Denn die Kommunisten möchten Reichtum und Gesundheit für alle, nicht nur für sich selbst. Und doch waren das keine dummen Leute, die das gesagt hatten. Im Gegenteil, an sich waren diese kirchlich bestallten Ausleger des Wortes Gottes sympathische, gebildete Menschen, die ihren Nächsten Gutes wünschten. Nur beten konnten sie überhaupt nicht (obwohl, wie gesagt, fast alle Priester waren). Die meisten sagten, dass die „Periode des Gebets“ bei ihnen schon weit zurückliege. Während eines äußerst kurzen „Gottesdienstes“, der diese Bezeichnung kaum verdiente [okay, alles, was unter zwei Stunden dauert ist kein Gottesdienst aus orthodoxer Sicht 🙂 – Anm. BW], erhellte sich das Gesicht nur bei einer alten Frau „aus dem Volk“, die sich zufällig dort eingefunden hatte. Die übrigen aber saßen wie vorher schon mit kalten und gleichmütigen Mienen da, als ob da irgendein Tagungsgeschehen abliefe.
Nach solchen „Konferenzen“ werde ich für gewöhnlich physisch krank […]“
Soweit die Goritschewa. Und es hat sich in 40 Jahren nix geändert, denn exakt so lief eine Präsenzveranstaltung des „Fernkurs Theologie Würzburg“ vor ein paar Jahren ab. Der Dozent erzählte uns genau dasselbe zu Bethlehem, Priester nahmen jedoch nicht teil. Und ich war die einzige Frau, die gegen Frauenweihe war.
Ich habe was mit Goritschewa gemeinsam. Das hat mich gefreut. Ja, und die alten Frauen „aus dem Volk“ sind es hüben wie drüben, die für ihre Kirche alles täten und auch tun.
September 14, 2023 No Comments
Erste Tagung in St. Justin – Eigenart der orthodoxen Theologie
St. Justin ist eine Einsiedelei bei Fulda, die in der serbisch-orthodoxen Tradition steht. Kürzlich fand dort eine Zusammenkunft statt, die der Rede wert ist.
Auf „Die Tagespost“ gibt es einen redigierten Artikel von mir dazu, allerdings hinter der Paywall:
Hier noch einige Fotoimpressionen:
September 13, 2023 No Comments
Wunderschöne Rückmeldung einer Leserin
>>Unsere Tochter hatte einigen Heiligen in Italien ihren Besuch für bestandene Klausuren versprochen, so nahmen wir das Buch “Poetische Pilgerorte”, welches ich vor einigen Jahren komplett gelesen hatte und sehr positiv in Erinnerung hatte, zur Hand. Diesmal gebrauchten wir das Buch zum einen, um die beste Route zu legen, aber auch um weitere Informationen zu erhalten. Zum Beispiel wusste unsere Tochter zwar, dass die Heilige Rita Helferin für aussichtslose Fälle ist, aber nicht warum. Durch das lebendig beschriebene Leben dieser Heiligen im Buch, wurde uns das sofort bewusst.
Natürlich konnten wir nicht alle im Buch beschriebenen Orte in 7 Tagen besuchen, aber einige extra Trips haben wir hinbekommen. Auf Loreto, beispielsweise, wurden wir nur Dank des Buches aufmerksam, und konnten es so mit unserem Besuch in Osimo verbinden.
Alle Geschichten sind so berichtet, dass es Lust macht, die dazugehörigen Orte zu besuchen.
Eine Kleinigkeit, die an manchen Stellen noch sehr hilfreich gewesen wäre, wären Angaben zu Adressen, wie zum Beispiel der Kirchen, aber auch anderer Plätze, zum Beispiel wo man Öffnungszeiten erfragen kann, oder das Geburtshaus der Heiligen Maria Goretti. Mit Corinaldo sind wir wieder bei einem Dorf angekommen, welches wir ohne das Buch nicht besucht hätten. Dort gefiel es uns so gut, dass wir drei Tage in Folge für einige Zeit dort waren.
Alles in allem hat dieses Buch unsere Reise sehr bereichert, und auch, wenn wir nicht alle Orte besuchen können, so sind wir definitiv für die Zukunft inspiriert.<<
Irene K.
Anmerkung: Ja, das mit den Öffnungszeiten ist tückisch und ändert sich auch ständig. Generell sollte man davon ausgehen, dass die eher kleineren Kirchen wie Osimo über Mittag geschlossen haben.
September 5, 2023 No Comments
Heute wäre der 90. Geburtstag meiner Mutter
Wenn sie nicht 2015 an ALS verstorben wäre.
Wie fast immer am 4. September herrscht Kaiserwetter. Es ist wunderschön und angenehm, nicht zu heiß.
Ich habe sie heute auf dem Friedhof besucht – leider waren ihre Rosenstöcke zuhaus etwas geizig – sodass die mitgebrachte Rose leider mickrig ausfiel. Aber es hätte ihr besser gefallen als jeder gekaufte Strauß.
Ja, Mama, die Schwalben waren sehr fleißig diesjahr, und wir haben bestimmt 30 minus eins in der Werkstatt gehabt über die Saison. Minus eins, weil eine tot auf der Kellertreppe lag. Ich weiß gar nicht, wem das mehr weh getan hat, dir oder mir.
Jedenfalls poste ich dieses Requiem auf dich erneut. Und es hat zeitlose Gültigkeit.
>>Die Hände einer Mutter – kann man sie oft genug küssen?
Als Mamma die eine Nacht noch zu Hause bei mir bleiben durfte, in der sie gestorben war, habe ich immer wieder ihre gefalteten, feinen, sehnigen, doch jetzt leblosen Hände geküsst.
Jeden Tag denke ich daran, wie rührig sie war, wie sie Blumen, Rosen, Stauden, Obstbäume, Kaninchen, Hühner, Enten, Truthühner, obdachlose Igel und verletzte Tauben, aus dem Nest gefallene Schwalbenjunge versorgt und geliebt hat. Ich stehe vor Gegenständen, die sie noch an Ort und Stelle gelegt hatte. Immer schaue ich in ihr Zimmer – als säße sie noch darin. Das Zimmer, in dem sie starb. Sie ist die dritte meiner Ahninnen, die dort den letzten Atemzug tat.
Ratlos stehe ich vor dem Gewirr von Übertöpfen für Blumen, ihrem Sammelsurium von Gläsern mit Schraubdeckel, in die sie noch so viele Quittengelees einmachen wollte. Den alten Waffeleisen. Dem antiquierten Rum-Topf. Der Dampfnudelpfanne. Alles von ihr eingepackt und gelagert im Keller. In der Tiefkühltruhe liegt noch ihr Lieblingseis aus der Zeit, als sie noch schlucken konnte.
Die Hände einer Mutter. Küsst sie, wenn ihr noch eine habt.<< Ich liebe dich. Du fehlst so sehr.
September 4, 2023 No Comments