Journalistin und Autorin

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Die heilige Rita von Cascia und ihr Gebetsfelsen

Die heilige Rita von Cascia gehört, was den Grad ihrer Verehrung betrifft, zu den Heiligen der Superlative. Aus ganz Europa, wie auch aus Übersee, strömen bis zu einer Million Pilger im Jahr in das Städtchen Cascia, hinter den sieben Bergen, den Monti Sibillini, im Südosten von Umbrien. Die Basilika von Cascia bewahrt Ritas unverweslichen Leichnam, gehüllt in die Ordenstracht der Augustinerinnen, auf. Ihr Glassarg wird von einem prächtigen Schrein ummantelt und von goldenen Engeln bewacht. Seine eigenwillige Gestaltung erinnert an die Schlafkapsel eines Raumschiffes, in dem Astronauten der Zukunft ihre jahrhundertelangen Reisen durch den interstellaren Raum überbrücken. Nur, dass die heilige Rita nicht den Landeanflug erwartet, sondern die Wiederkunft des Herrn

Die Basilika wurde 1937 direkt neben dem historischen Konvent erbaut, in dem heute noch etwa fünfzig Augustinerinnen leben und Reliquien wie Ritas Ehering und Rosenkranz aufbewahren. Dort kann man auch den bemalten Holzsarg besichtigen, in dem sie Mitte des 15. Jahrhunderts beigesetzt wurde. Als man ihn im Jahre 1627, im Zuge des Seligsprechungsverfahren unter Papst Urban VIII. öffnete, fand man ihren Körper nach mehr als 150 Jahren unversehrt – und das, obwohl Holz weitaus mehr Luft und Feuchtigkeit durchlässt, als etwa ein gemauerter Sarkophag. Nach der Umbettung in einen Glasschrein ging erst so richtig die Post ab: Augenzeugen berichteten, dass die heilige Rita ihre Augen öffnete und wieder schloss, sich umdrehte und einmal sogar zum Deckel ihres Sarges empor geschwebt sei.
Nicht weiter verwunderlich, immerhin war Rita schon zeit ihres Lebens eine Art katholisches Superwoman. Das fing schon in der Wiege an. Ein Schwarm Bienen soll sich auf dem Gesicht des kleinen Mädchens niedergelassen haben, ohne sie zu verletzen. Sie verspürte schon als Kind eine Berufung zum Ordensleben, wurde aber im Alter von 12 Jahren an einen brutalen Tyrann verheiratet, der sie psychisch und physisch misshandelte und dem sie zwei Söhne gebar. Mit heroischer Tapferkeit und Demut ertrug sie ihren gottlosen Mann und war dabei ein solches Vorbild an Frömmigkeit, dass sie es nach über zwanzig Jahren Ehe schaffte, ihn zu bekehren.
Gerade noch rechtzeitig, denn kurz darauf wurde er Opfer eines politisch motivierten Attentats. Als ihre beiden Söhne daraufhin eine Vendetta starten wollten, bat Rita Gott inständig, die beiden zu sich zu nehmen, bevor sie ihre Rachepläne durchführen und somit in große Sünde fallen könnten. Ihr Wunsch wurde erhört: Im Jahre 1402 starben auch noch ihre Söhne. Rita hätte jetzt ihrer Berufung folgen und in den Augustinerinnenkonvent von Cascia eintreten können. Doch die sagten Njet. Laut der Regel war die Aufnahme von Witwen nicht gestattet. Rita ließ nun ihre Beziehungen zur Gemeinschaft der Heiligen spielen, und es stellte sich heraus, dass es sogar enorm gute waren: Keine geringeren als Johannes der Täufer, Augustinus höchstpersönlich und Nikolaus von Tolentino – eine wahrhaft himmlische task force – schritten ein und transportierten sie mittels ihrer überirdischen Kräfte eines Nachts in die Kapelle des Konvents. Als die Schwestern in aller Herrgottsfrühe die – verschlossene! – Türe öffneten, staunten sie nicht schlecht. Und so kam es, dass Rita doch noch dort Aufnahme fand, endlich am Ziel ihres Lebens!

Geboren wurde sie um 1370 oder 1380 als Margherita Lotti-Mancini in Roccaporena, einem winzigen Gebirgsnest unweit von Cascia. Ihr Elternhaus ist erhalten und kann besichtigt werden, ebenso die Kirche, in der sie getauft und getraut wurde. Der spektakulärste von allen Orten, die mit der heiligen Rita in Verbindung stehen, ist aber sicher der „Scoglio della Preghiera“ – am Ortseingang erhebt sich ein etwa 120 Meter hoher, kegelförmiger Felsen, der von einer Steinschanze gekrönt wird, darüber wurde eine Kapelle errichtet. Zu Ritas Zeiten war der Weg, der sich in Serpentinen auf einer Seite des Felsens emporwindet, noch nicht ausgebaut. Pilger aus aller Welt haben gespendet, um den Pfad zu befestigen und einzufassen – ihre Namen mit Jahreszahlen sind auf den Simsen, die den Weg säumen, eingraviert. Das junge Mädchen, das sich so sehr nach einem Leben als Augustiner-Eremitin sehnte, hat sich oft auf den beschwerlichen Weg hinauf gemacht, ohne sicheren Halt für ihre Tritte und ohne das moderne, feste Schuhwerk, das wir heute kennen. Ganz oben, hoch über dem engen Tal, in dem sich die grauen Natursteinhäuschen von Roccaporena ducken, wird die junge Margherita Tage des Fastens und des Gebets verbracht haben – direkt unterhalb des Gebetsfelsens entspringt eine Quelle, die Versorgung mit herrlich frischem Wasser war sicher gestellt. Es ist ein ganz besonderer Ort, voller Majestät, den sie sehr geliebt haben muss.
Heute ist es erstaunlich zu sehen, mit welcher Zuversicht, Ausdauer und froher Gestimmtheit insbesondere ältere Menschen, Rentner, Greisinnen und Greise, Kranke und Behinderte diesen Aufstieg wagen, um oben auf dem eigentlichen Gebetsfelsen Rosen niederzulegen. Rita liebte diese Blumen und die Heiligenlegende erzählt, dass sie sich auf ihrem Krankenlager – es war tiefster Winter – einen Strauß frische Rosen gewünscht hat. Das Wunder geschah, eine Mitschwester fand frisch erblühte Rosen im Garten und brachte sie ihr. Seither weiht die Kirche am 22. Mai, ihrem Todestag, die „Rita-Rosen“, die insbesondere den Kranken aufgelegt werden, um Heilung zu bringen. Rita selbst litt 15 Jahren lang an einer Stirnwunde, die ihr, so ist überliefert, von einem Dorn aus der Dornenkrone Jesu zugefügt wurde. Im Kloster in Cascia ist das Fresko mit dem Gekreuzigten noch zu besichtigen, vor dem sie damals kniete und inständig bat, das Leiden des Herrn teilen zu dürfen.
Dabei war ihr eigenes Leben doch nicht gerade arm an Leid. Für ein einziges Frauenleben war das Maß schon reich bemessen: Erst unglücklich verheiratet, dann sterben Mann und Kinder, danach lebt sie nur noch für Gott ein Leben voller Buße und mystischen Erlebnissen.
Kurz vor ihrem Tod erhielt sie noch einmal eine großartige Vision, in der sie Jesus Christus zusammen mit der heiligen Gottesmutter schaute. Als sie starb, verbreitete sich paradiesischer Wohlgeruch im Konvent und die Glocken der Kirchen im Ort läuteten von selbst – wie von Engelshänden betätigt. Doch damals fing ihre Arbeit erst richtig an!
Besonders für Frauen ist die heilige Rita eine beliebte Ansprechpartnerin, war sie doch in ihrem Leben sowohl Ehefrau und Mutter als auch Nonne. Unangefochten ist ihr hoher Status als Heilige für aussichtslose Fälle, ungezählte Male konnte sie das Blatt für diejenigen wenden, die sie vertrauensvoll anriefen. Weil sich darunter vermutlich viele Autofahrer befanden, die in Italien unterwegs waren – jeder, der es selbst erlebt hat, weiß, was für ein aussichtsloser Fall der italienische Straßenverkehr ist – wurde sie auch noch die Patronin der Autofahrer in Italien. Heilige Rita von Cascia, bitt’ für uns!

(zuerst erschienen in Vatican-Magazin Mai 2011]

Mai 21, 2020   1 Comment

Die Mönche von Norcia – Newsletter

Vor einigen Jahren war ich gleich zwei Mal hintereinander zu Besuch bei der Mönchsgemeinschaft von Norcia, die in ihrem Heiligtum die Fundamente des Geburtshauses des Benedikt von Nursia hütet(e) – und sowohl die „neue“ wie auch die „alte“ Messe feiert. Mit vielen Mönchen und Novizen habe ich gesprochen und daraus einen schönen Artikel für die Tagespost gemacht. Außerdem einen für das Vatican-Magazin als „Heiligtum der besonderen Art“ – hier herunterladbar als pdf im Originallayout mit schönen Fotos der noch intakten Basilika.

Bei dem Erdbeben am 30. Oktober 2016 stürzte die Kirche ein – nur die Fassade mit der prachtvollen Rosette blieb noch stehen. Menschen knieten betend auf der Piazza von Norcia, es muss ein ähnlicher Moment gewesen sein wie wenige Jahre später der ungeheuerlicher Brand von Notre Dame in Paris.
Ich fühle mich Norcia und der Gemeinschaft immer noch verbunden – die Mönche haben einen Artikel von mir sogar ins Englische übersetzt eine Zeitlang auf ihrer Homepage übernommen, was mich sehr geehrt hat. Die Gegend um Norcia ist selbst für italienische Verhältnisse außerordentlich schön – dazu kommt noch, dass Cascia ganz in der Nähe liegt, mit dem unverweslichen Leib der heiligen Rita von Cascia, die ich damals natürlich auch besucht habe.

Nun, die Zeiten haben sich geändert, nach den mehrfachen Erdbeben sieht sich die sehr junge und sehr internationale Mönchsgemeinschaft vor einer neuen Herausforderung. Ich möchte meinen Lesern hier gerne einen Auszug aus dem Newsletter mit Fotos präsentieren. Einige meiner Leser sind auf meine Empfehlung hin sogar schon nach dort gepilgert, als das noch möglich war – das hatte mich immer sehr gefreut.
Hier aber nun die Auszüge aus dem Newsletter mit dem Titel „Death before our eyes“ (nein, das ist kein James-Bond-Titel, sondern ziemlich benediktinisch) und ein paar aktuelle Fotos:

>>Amid the coronavirus pandemic, life for the monks in Norcia (all healthy as of March 30) continues much as normal, with a few exceptions. Every morning, during the solemn high Conventual Mass, we have added prayers against pestilence. In the afternoon, we process through the property with relics of the True Cross, praying for liberation from “plagues, famines and wars,” as did the ancients, who knew these tribulations often arise together. Particularly in our prayers are the many doctors and nurses who are sacrificing much — and risking much — to keep others alive and return them to health. Our region of Umbria’s population is geographically dispersed, so the cases of coronavirus around us are fewer than in the far north. We know that this could quickly change.<<

>>A striking change for us has been the complete absence of visitors to the chapel. Although Norcia is off the beaten path, we are blessed to be able to often share our life — the chanted Office and Holy Mass — with visitors. The measures adopted by the Italian government have meant that most Italians now live in an imposed cloister in their homes and our friends abroad cannot travel. Hiddenness from the world takes on an almost sacramental symbolism during this extraordinary crisis.

For centuries, it was not possible to see up-close the mysteries of the altar. In certain periods, curtains were drawn at the most important moments of the Mass. Still today, the solemn prayers of consecration are said in the lowest of tones – a whisper – as the drama of the liturgy unfolds. The hiddenness intrinsic to the Mass (with an iconostasis in the Byzantine rite) was common to all in some form for many hundreds of years; it summoned an atmosphere of mystery. In our age, which demands to see in order to believe, God is offering us a chance to rediscover mystery – the mystery of the Mass’s unseen efficacy (2 Cor 4:18). We must rely on an invisible medicine for our ultimate salvation in the face of this invisible threat. << [Kursive Hervorhebungen von mir]

April 3, 2020   No Comments

Die „terra dei santi“ und ihr lächelnder Stern – Nikolaus von Tolentino und sein Heiligtum

[Zuerst erschienen im Vatican-Magazin Ausgabe Juni/Juli 2010]

Das Festungsstädtchen Tolentino bildet mit Osimo, wo der hl. Joseph von Copertino begraben liegt, Loreto mit dem Heiligen Haus aus Nazareth, dem unweit gelegenen Assisi, Cascia, Montefalco und zahlreichen anderen Orten eine terra dei santi aus den mittelitalienischen Provinzen Le Marche und Umbrien.
Tolentinum picenum, so lautete der alte Name des Städtchens am Chienti-Fluss, dem ehemaligen Siedlungsgebiet der alten Picener. Tolentino besaß bereits einen zuverlässigen Stadtheiligen, den Märtyrer Flavius Julius Catervus, aus einer vornehmen Senatorenfamilie, der unter Trajan die Tolentiner Bevölkerung christianisiert habe, weshalb er den Märtyrertod sterben musste.
Betritt man die Altstadt, so empfängt den Besucher und Pilger bereits direkt bei der Stadtpforte die antikisierend wiederaufgebaute Kirche S. Catervo, in welcher der beeindruckend Marmorsarkophag des Catervus aus dem 4. Jahrhundert aufbewahrt wird, der zu den künstlerisch bedeutendsten der Region zählt. Ihn zieren die Darstellungen vom Guten Hirten und von der Anbetung der Drei Könige.
Catervus ist heute der gatekeeper des Herzstücks von Tolentino: der Basilika des heiligen Nikolaus, dessen Travertin-Fassade von einem riesigen strahlenden Stern geschmückt wird. Der Stern, so heißt es, hat den Heiligen in den letzten Jahren seines Lebens begleitet. Er stieg über seinem Geburtsort, Castel S. Angelo, auf, wanderte über den Himmel und blieb immer über der Basilika stehen, wenn Nikolaus die Heilige Messe feierte.
Castel S. Angelo, unweit von Tolentino, ist der Ort, an dem diese Geschichte beginnt. Genau genommen beginnt sie im viel weiter südlich gelegenen Bari, denn die Eltern unseres Heiligen, kinderlos bislang, unternahmen eine Wallfahrt zum heiligen Nikolaus nach Bari, ihn um die Gnade eines Kindes zu bitten. Selbstverständlich boten die einfachen Leutchen dem großen Heiligen eine Gegenleistung an: Ordensmann oder Ordensfrau – ein Geschenk an die Kirche solle das ersehnte Kind einmal werden. Der Bischof von Myra fand diesen deal so fair, dass er ihren Wunsch 1245 erfüllte und gleich noch ein Sahnehäubchen drauf setzte: Aus seinem „Patenkind“ sollte einer der beliebtesten und geliebtesten Heiligen der italienischen Kirche werden.
Das 13. Jahrhundert hat der Kirche zahlreiche Kirchenlehrer und Theologen, charismatische und entschiedene Bischöfe, und so große Heilige wie Franziskus von Assisi geschenkt. Thomas von Aquin, Bonaventura, Albertus Magnus lehrten an den aufblühenden Universitäten, Mechthild von Helfta empfängt ihre Visionen, die Kreuzzüge sind endgültig gescheitert. Es ist das letzte Aufglühen vor den einsetzenden Wirren und dem Verfall von Papsttum und Kirche im 14. Jahrhundert mit dem großen abendländischen Schisma. Wie der Stern, der ihn begleitete, und den man häufig auf seiner Brust abgebildet sieht, strahlt unser Nicola noch in dieses dunkle Jahrhundert hinein, als wollte er denen, die treu im Glauben stehen, ein Licht in der umfassenden Finsternis sein, die die Kirche zu überwältigen drohte.
Große persönliche Frömmigkeit zeichnet jeden Heiligen der katholischen Kirche aus, bei Bruder Nicola kamen von klein auf Herzensgüte, Mitleidensfähigkeit und große Demut hinzu.
Es ließ sich allerbestens an: Mit 15 Jahren trat der fromme Knabe sein Noviziat im Augustinerkonvent an und bereits in diesem zarten Alter erwies er sich als „stark in den Prüfungen, tüchtig in den Tugenden und heroisch in der Buße“.
Nach seiner Priesterweihe durch den Bischof von Osimo und Cingoli im Jahre 1270 wurde er in einen Konvent bei Pesaro versetzt. Feierte er die Messe, so liefen ihm jedes Mal Tränen über das Gesicht, vor allem bei der Wandlung, weshalb das Volk herbeiströmte, um Zeuge seiner Ergriffenheit und Hingabe zu werden.
Seine ganze Hinwendung galt nicht nur den Kranken und reuigen Sündern, sondern insbesondere den Armen Seelen, die auf Erlösung aus dem Fegefeuer hofften. Dies geschah auf Intervention eines verstorbenen Mitbruders, der ihm eines Samstagnachts im Traum erschien und bat, die hl. Messe am Sonntag für die Verstorbenen zu feiern, damit er und alle anderen von ihren Qualen erlöst würden. Unser Nicola wusste, was sich für einen wahrhaft gehorsamen und demütigen Augustiner-Eremiten gehörte: Anstatt mit einem frommen Ausruf von der Pritsche zu schnellen, federnden Schrittes den Kreuzgang entlangeilen und den Pater Prior aus seiner Zelle zu trommeln, um ihm von dieser wundersamen Möglichkeit, Seelen zu retten, enthusiastisch zu berichten, wog er eine Weile den Kopf. Schließlich gab er dem verzweifelten Entschlafenen zu bedenken, dass er die Konventsmesse zu singen habe – eine absolut unverhandelbare Verpflichtung -, und deshalb keine Messe für die Verstorbenen feiern könne.
Pater Pellegrino, die Erscheinung aus dem Fegefeuer, musste mit einer solch spröden Reaktion gerechnet haben, denn er beschloss, ganz auf Breitbild-HDTV und höchste Dolby-Audioqualität zu setzen: Er zeigte Nicola das Tal von Pesaro, angefüllt mit lauter Seelen von Verstorbenen, die in einem riesenhaften Fegefeuer brannten – Stanley Kubrick hätte es nicht besser inszenieren können.
Nicola beeindruckte das Szenario insoweit, als er die Nacht im Gebet verbrachte und den Prior bat, eine ganze Woche lang die hl. Messe in der Fürbitte für die armen Seelen feiern zu dürfen. Sein Mitbruder erschien ihm abermals, um ihm zu danken und die Gewissheit zu geben, er habe den größten Teil der Seelen aus dem brennenden Tal retten können. Und so mehrte sich der Ruhm des jungen Nicola, dessen nächste Stationen Fano und Recanati waren, wo er ein totes Kind auferweckte, die Seele eines gemeuchelten Mitbruder aus dem Fegefeuer erlöste, die Kranken pflegte und die Verzweifelten tröstete.
1275 kam er nach Tolentino. Hier kümmerte er sich weiter intensiv um die Armen und Bedürftigen, und unterzog sich strengsten Bußübungen: er war ein beliebter und milder Beichtvater, der zu gütig war, um seinen Beichtkindern schwere Bußen aufzuerlegen. Stattdessen büßte er also für deren Verfehlungen und ruinierte sich nach und nach seine blühende Gesundheit. Niemand sah ihn jemals Fleisch, Eier, Fisch oder Obst essen. Stattdessen nahm er drei Gläser Wein mit Wasser vermischt pro Tag zu sich, wobei es vorkommen konnte, dass sich das Wasser in seinem Glas zu vorzüglichem Wein verwandelte.
Doch selbst ein großer Heiliger kann in den Zwiespalt zwischen Demut und Gehorsam geraten. Einmal erkrankte er so schwer, dass ihm der Tolentiner Arzt als stärkende Mahlzeit ein paar knusprig gebratene Rebhühner verordnete. Nicola hätte liebend gerne heroisch verzichtet aus Gründen der Askese, doch diesem Ansinnen stand die Weisung seines Priors entgegen, der ihm kurzerhand befahl, gefälligst alles bis auf das letzte Flügelchen aufzuessen. Nicola gehorchte stets und immer, wie sein Oberer wusste, dem letztlich an der Gesundheit seines Schützlings mehr gelegen war als an dessen spirituellen Obsessionen.
Nicola blickte auf den Teller, von dem es appetitanregend duftete, wendete dann den Blick gen Himmel und bat dringend darum, entsagen zu dürfen. Nach göttlicher Logik konnte es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Zwickmühle geben, der Nicola einerseits nicht des Ungehorsams schuldig machte und andererseits seine Bußübungen torpedierte: Die Rebhühner wurden wieder lebendig, werden zutiefst verwirrt ihr kerrick-kerrick gekrächzt und sich dann Flügel schlagend in die Lüfte erhoben haben.
Wir dürfen vermuten, dass die heilige Muttergottes diese Auflösung zwar als äußerst elegant empfand, aber hinsichtlich des Gesundheitszustandes ihres Schützlinges nicht hinreichend wirkmächtig. Darum wies sie ihn in einer Vision an, frisch gebackenes Brot in Wasser zu tauchen und davon zu essen. Und Nicola genas auf der Stelle.
Noch heute werden Nikolaus-Brötchen im Heiligtum gesegnet. Man taucht sie in Wasser und betet ein Vater Unsere, Ave Maria und Ehre sei dem Vater, bevor man sie zu sich nimmt.

Der Gebäudekomplex des Heiligtums besteht aus der Basilika mit ihrer prächtig vergoldeten Kassettendecke, der Sakramentenkapelle aus dem 17. Jahrhundert und dem Glockenturm. Daneben befindet sich das romanische Meisterwerk des um 1210 erbauten Kreuzganges mit herrlichem Glyzinien-Bewuchs, mit den Eingängen zu den Mönchszellen. Parallel zu Chor und Apsis der Basilika liegt die Kapelle der hl. Arme, in der 450 Jahre lang die Arme des Heiligen verehrt wurden, die irgendein Wahnsinniger vom Körper abgetrennt hatte. Bei wichtigen kirchlichen Ereignissen begannen diese auch prompt zu bluten. Heute liegt der komplette – wieder aufgefundene – Leichnam des Heiligen in der unterirdischen Krypta aus dem 19. Jahrhundert in einem vergitterten Glassarg.
Das ganze Ensemble ist von großer kunsthistorischer Bedeutung, doch die capellone genannte Große Kapelle mit den gotischen Kreuzgewölben ist ein wahres Kleinod: Decke und Wände sind mit farbenprächtig leuchtenden Fresken aus der Giotto-Schule bedeckt, wie wir sie aus der Basilika in Assisi kennen. Das Gewölbekreuz ist mit Darstellungen der Evangelisten und Kirchenväter geschmückt, die Wände zeigen Episoden aus dem Leben Jesu Christi, der heiligen Jungfrau und dreizehn Szenen aus der Vita des heiligen Nikolaus von Tolentino mitsamt seinen Aufsehen erregendsten Wundertaten: der Auferweckung des Mädchens Filippa aus Fermo von den Toten, die Rettung Schiffbrüchiger, eines zu Unrecht Verurteilten und Erhängten; auf dem Sterbebett umgeben von Engeln und Heiligen – als sein Todestag gilt der 10. September 1305.
In der Mitte des Raumes steht der Steinsarkophag aus dem Jahre 1474, in dem seine Reliquien bis zu seiner Umbettung in die moderne Krypta aufbewahrt wurden, darauf eine Statue (um 1460), wie er, im Mönchsgewand, in der einen Hand ein Buch hält und in der anderen einen Stern mit einem lachenden Kindergesicht.
Für einen Besuch der Basilika des heiligen Nikolaus in Tolentino sollte man sich viel Zeit nehmen, denn neben den Kunstschätzen und den Reliquien beherbergt das Heiligtum auch verschiedene interessante Sammlungen, wie etwa die einzigartigen Votivtafeln – die ältesten stammen noch aus dem 14. Jahrhundert – eine Keramik- und Gemäldesammlung, Paramente und Brokate sowie eine Krippensammlung. Auf keinen Fall sollte man die Diorama-Schau im Untergeschoß versäumen, in der in zahlreichen detailverliebten und bezaubernd ausgeschmückten Guckkästen das Leben und Wirken des Heiligen nacherzählt wird.
Die Anrufung des heiligen Nikolaus von Tolentino empfiehlt sich vor allem Eltern für ihre Kinder und Enkel, für Menschen, die sich im Kampf gegen das Böse bewähren müssen und für die Verstorbenen und die Armen Seelen. Für den Besuch des Heiligtums am Sonntag nach dem 10. September kann man nach Anordnung von Papst Bonifatius IX. aus dem Jahr 1400 einen vollständigen Ablass gewinnen.
Unabhängig davon wirkt unser Nicola unermüdlich und bis zum heutigen Tage noch Wunder. Und wer ihn an einem stillen Frühlings- oder Herbstabend besucht, sieht vielleicht sogar seinen lächelnden Stern über der Basilika stehen.
Heiligtum der Basilika des Hl. Nikolaus, 62029 Tolentino (MC), Italien
Zwischen 12 und 15 Uhr geschlossen wegen Mittagsruhe.
http://www.sannicoladatolentino.it

September 10, 2014   No Comments