Posts from — August 2014
Ein Kommentar zu Matthäus 15, 21-28
In jener Zeit zog sich Jesus in das Gebiet von Tyrus und Sidon zurück.
Da kam eine kanaanäische Frau aus jener Gegend zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält.
Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Befrei sie (von ihrer Sorge), denn sie schreit hinter uns her.
Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.
Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!
Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.
Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.
Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt. Matthäus 15, 21-28
Wilhelm von Saint-Thierry (um 1085 – 1148), Benediktiner, dann Zisterzienser
Meditative Gebete, 2
>>„Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids“
Manchmal, Herr, fühle ich, dass du vorübergehst; Du bleibst nicht für mich stehen, du gehst vorbei, doch ich schreie zu dir wie die Kananäerin. Werde ich es denn noch wagen, mich dir zu nähern? Ganz sicher, denn die kleinen Hunde, die man aus dem Haus ihres Herrn gejagt hat, werden nicht müde zurückzukommen, und weil sie das Haus bewachen, bekommen sie täglich ihr Brot. Auch ich bin noch verjagt; vor die Tür gesetzt, schreie ich; beschimpft, bitte ich. So wie die kleinen Hunde nicht fern von den Menschen leben können, so auch meine Seele nicht fern von meinem Gott!
Öffne mir, Herr, damit ich zu dir kommen kann, um in dein Licht eingehüllt zu werden. Du wohnst in den Himmeln, du hast dich im Finstern verborgen, in der dunklen Wolke. Wie der Prophet sagt: „Du hast dich in Wolken gehüllt, kein Gebet kann sie durchstoßen“ (Klgl 3,44). Ich bin gefangen auf der Erde, das Herz wie im Morast… Deine Sterne funkeln nicht mehr für mich, die Sonne hat sich verdunkelt, der Mond scheint nicht mehr. Ich höre sehr wohl, wie deine Wundertaten in den Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern besungen werden. Im Evangelium leuchten deine Worte und Gesten in hellem Licht. Das Vorbild deiner Diener…, das Drohen und die Verheißungen deiner Schriften voll Wahrheit drängen sich meinen Augen auf und wollen die Taubheit meiner Ohren durchdringen. Doch mein Geist ist verhärtet; ich habe gelernt, im Glanz der Sonne zu schlafen; ich habe mir angewöhnt, nicht mehr zu sehen, was sich mir dergestalt darbietet…
Bis wann, Herr, bis wann wirst du noch zögern, bis du deine Himmel aufreißt, herabsteigst, um meine Schläfrigkeit aufzubrechen? (vgl. Ps 12,1; Jes 64,1). Ich will nicht mehr das sein, was ich bin…., ich möchte umkehren und wenigstens am Abend zurückkommen wie ein kleiner Hund, der Hunger hat. Ich durchstreife deine Stadt; sie pilgert noch teilweise über die Erde, obwohl ein Großteil ihrer Bewohner ihre Freude in den Himmeln gefunden hat. Werde auch ich dort vielleicht meine Wohnung finden? <<
August 17, 2014 No Comments
Post aus Mater Ecclesiae, Vatikanstadt
August 17, 2014 No Comments
Rezension „Das Farnese-Komplott“ von Ulrich Nersinger in „Die Tagespost“
Ein Vatikankrimi der besonderen Art
von Ulrich Nersinger, erschienen in „Die Tagespost“ vom 16. August 2014
Im Sommer 2011 verblüffte die Zeitung des Papstes ihre Leser mit einem Artikel zu einem ganz besonderen Genre des gedruckten Wortes. Gian Maria Vian, der Chefredakteur des „Osservatore Romano“, lobte Vatikanromane, und zwar jene, die aus der Feder des australischen Schriftstellers Morris L. West stammen. Der bekennende Katholik, so Vian, habe spannende Literatur zuwege gebracht, die sich kritisch, aber fair mit der Kirche und dem Vatikan auseinandersetze. Wer den Beitrag im „Osservatore Romano“ aufmerksam las, konnte ihm nicht nur das Lob auf einen bedeutenden zeitgenössischen Autor entnehmen, sondern auch die Aufforderung, das weite Feld und breite Spektrum der Kirchenkrimis nicht allein Gegnern des christlichen Glaubens zu überlassen.
Kriminalromane mit einem religiösen Bezug, im besonderen Vatikan-Thriller, schöpfen zu einem nicht unerheblichen Teil aus allseits bekannten Klischees. Vor allem ein mittelalterlicher Ritterorden, die Templer, und die unvermeidliche Suche nach dem heiligen Gral haben es vielen Autoren angetan. Sogar die Welt der Engel und Dämonen wird unbekümmert auf die Erde geholt – und nach Rom versetzt; die Nephilim, Wesen aus den Verbindungen gefallener Engel mit den Menschen, treiben sodann im Vatikan ihr Unwesen. Auch neuere kirchliche Ereignisse, wie jene, die sich 1917 in einem bekannten portugiesischen Wallfahrtsort ereigneten, taugen zur Vermarktung. Warum nicht ein drittes „entstelltes“ Geheimnis von Fatima enthüllen, oder sogar ein viertes und fünftes?
Barbara Wenz, geboren 1967 in der Südpfalz, anerkannte Sachbuchautorin und regelmäßige Autorin dieser Zeitung, die seit mehr als einem Jahrzehnt in Italien lebt, hat im Kölner Emons-Verlag einen Kriminalroman herausgebracht, der auf den ersten Blick die üblichen Ingredienzien für einen Vatikan-Thriller verwendet haben dürfte: Bereits im Prolog ergreift eine Ordensfrau das Handwerk eines Profikillers, eine geheimnisumwitterte Reliquie aus der Zeit Christi durchzieht das Geschehen wie ein roter Faden und die Protagonisten der Geschichte müssen sich innerhalb und außerhalb der vatikanischen Mauern einer Verschwörung gegen die Kirche erwehren. Und dennoch ist das von Barbara Wenz gesponnene „Farnese-Komplott“ keines der üblichen auf den Buchmarkt geworfenen Werke, die sich den Vatikan als Tummelplatz ihrer schillernden „personae dramatis“ erkoren haben.
Die Autorin gibt dem Roman wie bei einem Bild eine besondere Grundierung; sie wählt hierzu ihre Version der Geschichte des „Volto Santo“, des Schleiertuchs von Manoppello, das dem Betrachter das Gesicht Jesu Christi zeigen soll. Mit der abenteuerlichen, aber durchaus nachvollziehbaren Erzählung über die berühmte Tuchreliquie wird das nicht weniger spannende und ereignisreiche Geschehen der Gegenwart immer stärker verbunden, ohne dass sich die Story ins unerquicklich Mystische verliert. Krista Winther, eine deutsche Journalistin, ist in der Ewigen Stadt eingetroffen, um die Nachfolge des Rom-Korrespondenten des „Frankfurter Allgemeinen Anzeigers“, Manfred Moorstein, anzutreten. Als sie Moorstein aufsuchen will, findet sie dessen Wohnung verwüstet vor. Der Kollege ist spurlos verschwunden; alles deutet auf ein Verbrechen hin.
Der Schleier mit dem Antlitz Christi kommt auch vor
Gemeinsam mit Monsignore Lorenzo Farnese, dem Spross einer altehrwürdigen Adelsfamilie, und dem vatikanischen Gendarmerie-Inspektor Gabriele Cairo macht sich Krista Winther auf die Suche nach den Hintergründen und erfährt, dass der „Volto Santo“, der Schleier mit dem Antlitz Christi, eine besondere Rolle in dem Fall spielt. Das Ermittlertrio findet sich schon bald in Ereignisse verwickelt, bei dem es nicht nur um eine berühmte Reliquie der Christenheit geht, sondern um weitaus mehr. Es muss mit viel Cleverness und Geschick dem Spiel der Intrigen, massiven Behinderungen und sogar Mordanschlägen ausweichen.
Die Journalistin, der Monsignore und der Inspektor werden von der Autorin „romgerecht“ beschrieben – so könnten sie tatsächlich in der Ewigen Stadt existieren und agieren. Es macht Spaß, den drei Protagonisten durch Rom zu folgen. Die Örtlichkeiten, die sie aufsuchen, sind real und werden anschaulich geschildert: die Bar in der Via delle Grazie (und ebenso die Wohnung des verschwundenen Rom-Korrespondenten), der Palazzo San Carlo und die verschlungenen Straßen und Wege der Vatikanstadt, das Kloster Santa Maria del Rosario auf dem Monte Mario. Nur der Besuch in der Kantine der helvetischen Leibwache des Papstes würde wohl so nicht vom strengen Gardekommando geduldet werden. Geschichtliche Hintergründe, vatikanische Interna und römische Besonderheiten werden ansonsten aber ebenso korrekt wie liebenswert dargestellt.
Die kriminellen Vorgänge und Absichten, denen der Leser auf den Seiten des Buches begegnet, sind nicht frei erfunden, keine reinen Fantasieprodukte; sie haben durchaus ihre „Vorbilder“ in „bella Italia“ – und auch im Vatikan. Wenn es das eine oder andere Mal allzu skurril zu werden droht, weiß Barbara Wenz den Humor auf den Punkt genau als notwendiges Korrektiv einzusetzen. Der Humor ist übrigens eine der großen Stärken der Geschichte; man ertappt sich recht häufig bei einem Schmunzeln.
Der Roman ist durch und durch kirchlich und erfreulich katholisch orientiert – ohne je aufdringlich, moralisierend oder frömmlerisch zu sein. Am Ende des spannenden Lesevergnügens steht, wie es sich für einen ordentlichen Krimi gehört, ein Plot. Aber die Autorin schafft es, dass man sich nicht allzu bequem zurücklehnen und das Buch zuklappen kann. Den Fortgang einiger Handlungsstränge hält Barbara Wenz in der Schwebe und überlässt ihn der Fantasie des Lesers. Oder – und das erhofft man sich im Grunde – sie hat in der Tradition amerikanischer Krimiserien kleine Cliffhanger geschaffen, die auf ein weiteres Abenteuer mit der Signorina Winther, Monsignore Farnese und dem Ispettore Cairo hindeuten.
Barbara Wenz: Das Farnese-Komplott,
Emons-Verlag, 2014, 224 Seiten,
ISBN 978-3-95451-313-0, EUR 9, 90
August 16, 2014 No Comments
Im Vorhof des Himmels – Edith Stein und ihr Seelenführer Raphael Walzer, Erzabt von Beuron
Von Barbara Wenz. Zuerst erschienen im Vatican-Magazin August-September 2012.
Am 9. August 1942, vor siebzig Jahren, starb die Philosophin, zum katholischen Glauben konvertierte Jüdin und Karmelitin Edith Stein in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Ihre Überreste wurden zusammen mit denen ihrer Schicksalsgenossen mit Benzin übergossen und in einer Erdgrube verbrannt. Ihre Festnahme und Verschleppung war im Zuge einer Vergeltungsaktion der Nazis gegen die katholische Kirche erfolgt – die niederländischen Bischöfe hatten sich deutlich gegen deren brutales Regime ausgesprochen. Doch letztlich musste sie wegen ihrer Abstammung sterben. Teresia Benedicta vom Kreuz, so ihr Ordensname, ist immer sehr glücklich über ihre jüdische Herkunft gewesen, wie Mitschwestern berichten: Dem selben Volk, dem gleichen Blut wie Jesus Christus, Maria und die Apostel anzugehören, erfüllte sie häufig mit großer Freude.
Als sie am 2. August 1942 abtransportiert wurde, muss es gewesen sein, als hätte der obisidianschwarze Eishauch aus der bodenlosen Finsternis, die von Deutschland ausgehend Europa in ihrem brutalen Griff hielt, ausgerechnet eine der intellektuell wie geistlich hell brennendsten Kerzenflämmchen in Gottes Karmelgarten für immer und ewig ausgelöscht. Like a candle in the wind …
Zwar ist den Nazis bei Edith Stein wie bei vielen Millionen namenlos gebliebenen Leidensgenossen die physische Auslöschung gelungen – das schwache, flackernde Lichtchen des Lebens zu ersticken durch Gas oder körperliche Gewalt, durch Hunger und Not in den Konzentrationslagern. Doch was selbst dem absolut Bösen nie gelingen kann ist, die leuchtende, ewig lebendige Fackel einer gläubigen Seele zu zerstören. Dafür garantiert die Kirche, Seine Kirche. Die Kirche Jesu Christi bewahrt die Seelen und deren kleinste Funken, deren mahnende Leuchtfeuer wie die großen Brände, die sie auf Erden entfacht haben – gleichgültig, was man mit ihrem Fleisch, ihren Knochen, ihren Innereien für Gräueltaten angestellt hat – sie ziehen in der Schar der Heiligen durch alle Jahrtausende zu Gott.
Als diese herausragende Intellektuelle und glühende Konvertitin im Jahre 1998 von Papst Johannes-Paul II. heilig gesprochen wurde, handelte es sich um einen einzigartigen Vorgang von hoher Symbolkraft: Edith Stein war nicht nur die erste deutsche Frau nach 650 Jahren, sie war und ist auch die bislang einzige Heilige jüdischer Abstammung, die von der Kirche zur Ehre der Altäre erhoben wurde. Schon während des Kanonisierungsverfahrens war gerüchteweise bekannt geworden, dass ein Brief der künftigen Heiligen aus dem Jahre 1933 an Papst Pius XI. existieren müsse, in welchem sie die politische Lage in Deutschland in drastischen Worten schilderte und das anhaltende Schweigen der Kirche dazu beklagte. Doch erst nach der außergewöhnlichen Anordnung von Johannes-Paul II. im Jahre 2002, die Vatikanischen Geheimarchive entgegen den Usancen für die Jahre 1922 bis 1939 zu öffnen, konnten das Schreiben und sein Wortlaut entdeckt und veröffentlicht werden. Am 15. Februar 2003 erschien dieser Brief in erster Veröffentlichung bei der Tageszeitung Die Welt. Welche Gedanken Edith Stein bei seiner Abfassung umtrieben, erfahren wir aus einer überlieferten Handschrift von ihr: Von einem befreundeten Ehepaar hatte sie in der Fastenzeit 1933 erfahren, dass amerikanische Zeitungen über entsetzliche Taten berichteten, die an der jüdischen Bevölkerung in Deutschland begangen würden. Zunächst fasst sie den Plan, nach Rom zu fahren und den Papst um eine Enzyklika zur Judenfrage zu bitten, doch die fromme Konvertitin möchte sich deswegen in jedem Fall mit ihrem Seelenführer beraten. Seit 1928 ist dies, nach dem Tode des Speyerer Geistlichen Joseph Schwind, der Erzabt von Beuron, den sie regelmäßig zu den großen kirchlichen Feiertagen besucht. Das Benediktinerkloster im oberen Donautal war ihr ebenso eine geistliche wie auch eine Heimat des Herzens geworden, bis sie im Oktober 1933 dann in den Karmel eintrat.
Sie nennt Beuron den „Vorhof des Himmels“, den „Himmel auf Erden, ihr „geliebtes Beuron“ und schreibt einmal über ihre Aufenthalte dort: „Mein Herz ist noch dort und kommt nur her, wenn ich es nötig brauche; im übrigen wartet es, bis ich wieder hinkomme.“
Die Begegnung mit dem befreundeten Ehepaar in der Fastenzeit 1933 war der letzte Impuls, den es noch brauchte, um ihren Entschluss umzusetzen. Da sie die Kartage wieder im Kloster verbrachte, bot sich dort die Gelegenheit, sich dazu mit ihrem geistlichen Begleiter zu besprechen:
„Seit ich in Beuron eine Art klösterliche Heimat hatte, durfte ich in Erzabt Raphael Walzer ‚meinen Abt’ sehen und ihm alle Fragen von Belang zur Entscheidung vorlegen.“
Walzer selbst schreibt im Rückblick über Edith Stein und ihr Verhältnis zum Kloster, dem er vorstand: „Sie wollte nur einfach hier in Beuron sein, um bei Gott zu sein, um in der Gegenwart der erhabenen Heilsmysterien zu bleiben. Ihrem Glauben war es selbstverständlich, sich mit Gott zu vereinigen – im göttlichem Offizium – und sich selbst zu verlieren in der laus perennis – dem ununterbrochenen Gotteslob.“
Walzer, 1888 in Ravensburg als Sohn einer einfachen Handwerkerfamilie geboren, ist nicht nur ein hochintelligenter Mann, der 1914, ein Jahr nach seiner Priesterweihe, an der Benediktinerhochschule Sant’Anselmo zum Kirchenbegriff des heiligen Irenäus promoviert, er verfügt auch über große Tatkraft und organisatorisches Geschick. Als er am 25. Januar 1928 zum Erzabt postuliert wird, es ist wohl das gleiche Jahr, in dem ihm Stein zum ersten Mal begegnet, ist er erst vierzig Jahre alt, nur drei Jahre älter als Edith. Nachdem sie ihm in den Kartagen 1933 ihr Vorhaben unterbreitet, war vermutlich er es, der ihr von einem Rombesuch und einer Privataudienz abriet, die sie eh nicht erhalten würde. Die Kirche feierte ein Heiliges Jahr anlässlich der Kreuzigung Jesu Christi vor 1900 Jahren, der Andrang von Besuchern, die Audienzen wünschten, war einfach zu hoch. Ob sie daraufhin den Brief noch in Beuron geschrieben hat, wissen wir nicht genau, aber es steht zu vermuten. Raphael Walzer, der kurz zuvor aus Japan zurückgekehrt ist, wo er eine Klosterneugründung plante, hatte möglicherweise auch davon abgeraten, auf eine Enzyklika zu drängen. Im Wortlaut des Schreibens steht schließlich nur noch die dringende Bitte, die Kirche möge nicht länger schweigen; in welcher Form der Heilige Vater sich äußern solle, lässt Stein zu seiner persönlichen Entscheidung offen. Denn, zur gleichen Zeit, also im April 1933, verhandelt der Heilige Stuhl mit dem Hitler-Regime über das Reichskonkordat, um, wie der Historiker Konrad Repgen zutreffend bemerkt, die Großorganisation Kirche als einer eigen- und nicht fremdbestimmten Seelsorgskirche zu bewahren und vertraglich zu schützen.
Steins Brief an Pius XI. trägt zwar kein Datum, doch durch das Begleitschreiben Raphael Walzers, datiert vom 12. April, können wir davon ausgehen, dass er zwischen dem 7. und 12. April in Beuron entworfen und abgefasst worden ist. Stein stellt sich zunächst als Kind des jüdischen Volkes vor, das „durch Gottes Gnade seit elf Jahren ein Kind der katholischen Kirche ist“, und das nun vor dem Heiligen Vater auszusprechen wagt, was Millionen von Deutschen bedrücke. Sie schildert mit eindringlichen Worten, was in Deutschland unter den Nazis vor sich geht, „Taten, … die jeder Gerechtigkeit und Menschlichkeit – von Nächstenliebe gar nicht zu reden – Hohn sprechen.“ Und sie macht klar, dass nicht nur die Juden, auch die deutschen Katholiken, ja die ganze Welt darauf warte, dass die Kirche Christi dazu ihre Stimme erhebt. Die zentrale Passage ihres Briefes aber ist diese:
„Ist nicht diese Vergötzung der Rasse und der Staatsgewalt, die täglich durch Rundfunk den Massen eingehämmert wird, eine offene Häresie? Ist nicht der Vernichtungskampf gegen das jüdische Blut eine Schmähung der allerheiligsten Menschheit unseres Erlösers, der allerseligsten Jungfrau und der Apostel?“
Hellsichtig erkennt sie, dass dem brutalen Kampf gegen das Judentum der Kampf gegen den Katholizismus folgen wird, stiller und schleichender geführt, aber nicht weniger erbittert.
Mit diesem Schreiben reiht sich Stein in die großartige Folge von heiligen Frauen wie Hildegard von Bingen oder Caterina von Siena ein, die es gewagt haben, als eindringliche Mahnerinnen dem jeweiligen Papst gegenüberzutreten. Zugleich bleibt sie demütig und ehrerbietig, wenn sie in der Grußformel schließt: „Zu Füßen Eurer Heiligkeit, um den Apostolischen Segen bittend“.
Jahre später, am 14. März 1937, erscheint dann die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, welche mittels wahrer Nacht- und Nebelaktionen in den einzelnen deutschen Bistümern gedruckt und verbreitet wird, und deren Kernsatz einen Gedanken aus Steins Brief aufgreift:
„Wer die Rasse oder das Volk, oder den Staat, oder die Staatsform, die Träger der Staatsgewalt …. aus dieser ihrer irdischen Werteskala herauslöst, sie zur höchsten Norm aller, auch der religiösen Werte macht und sie mit Götzenkult vergöttert, der verkehrt und fälscht die gottgeschaffene und gottbefohlene Ordnung der Dinge.“
Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Edith Stein bereits im Kölner Karmel, in den sie bereits 1933 eintrat – entgegen dem Wunsch ihres Seelenführers, der sie lieber als Teil der ecclesia militans in der Welt gesehen hätte. Doch angesichts der zunehmenden Repressalien für Juden musste er schließlich eingestehen, dass der Karmel der sicherere Ort für sie sein könne.
Für Walzer wird das Erscheinungsjahr der Enzyklika ein Schicksalsjahr: Er hatte sich im November 1933 als einziger deutscher kirchlicher Führer bei der ersten Volksabstimmung mit seiner Stimme enthalten. Die Schikanen und die Überwachung, der er sich seither ausgesetzt sah, gipfelten im Januar 1937 in einem offiziellen Erlass aus Berlin: Er hatte bereits zwei Jahre zuvor Beuron verlassen müssen – nun wurde ihm bestätigt, dass „seine Rückkehr nach Deutschland und die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit in Beuron aus politischen Gründen mehr als unerwünscht“ seien. Walzer wird im November des gleichen Jahres auf sein Amt endgültig verzichten. Er ist nun ein staatenloser Flüchtling, stellt ein Gesuch auf Erhalt der französischen Staatsbürgerschaft, muss schließlich auch aus Frankreich anlässlich der deutschen Invasion fliehen, erhält aber in Algerien eine neue Aufgabe als Militärgeistlicher in der französischen Armee.
Vom Tode seiner Benedicta Cara, seiner lieben Benedicta, wie er sie in den Briefen ansprach, die noch erhalten sind, hat er ebenfalls in Algerien weilend erfahren. Wie sehr er sie geschätzt und verehrt hat, wird uns in einer Aussage eines Mitpaters überliefert: „Er nannte sie die virgo sapiens. Sie war für ihn die von Gott überreich beschenkte, die ganz in der geliebten Wahrheit Verweilende, die betende Philosophin, das Gebet in Person.“
Ihre Seligsprechung hat er nicht mehr erlebt und wohl auch gar nicht in Betracht gezogen, wie seine Stellungnahme zur ihrer Persönlichkeit verrät, die Mitte der Vierziger Jahre während eines USA-Aufenthaltes entstanden sein muss. Ihr Martyrium bezeichnet er darin als ein glanzvolles, das an das kalon to dynai des Ignatius von Antiochien erinnere. „Wir wissen nicht, was die Göttliche Vorsehung mit der Heimgegangenen vorhat. Wird sie eines Tages auf die Altäre der Kirche erhoben werden oder nur als ideale Persönlichkeit in die Geschichte eingehen? Ich würde mich nicht wundern, wenn es beim Letzteren bliebe. Eines wird immer wahr bleiben: ihr Bild, ihr Beten und Arbeiten, ihr Schweigen und Leiden, ihr letzter Gang gen Osten werden nicht leicht aus dem Gedächtnis kommender Geschlechter schwinden und stets Kraft ausstrahlen und Sehnsucht wecken nach der Tiefe des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.“
Walzer, der seine Briefe an Edith mit „Immer in caritate Dei – Ihr Raphael“ unterzeichnete, hat die Formulierung von ihrem letzten Gang gen Osten nicht zufällig gewählt. Das Lebenslicht der Gesegneten vom Kreuz wurde in den Gaskammern Birkenaus erstickt – doch die Glut ihres Seelenfeuers konnten die Stiefel ihrer bestialischen Mörder nicht zertreten. Seit alters her erwartet die streitende Kirche auf Erden die Wiederkunft des Herrn aus dem Osten. Edith Stein ging auf ihrem Weg nach Birkenau dem wiederkehrenden Christus entgegen.
August 9, 2014 1 Comment