Posts from — Juli 2020
Gott
„Gott verbirgt sich hinter allem, und in allem sind schmale Spalten, durch die er scheint – scheint und blitzt.
Ganz dünne, feine Spalten.“
(Der Bildhauer Ernst Barlach 1870-1938)
Juli 31, 2020 No Comments
Der Heilige Synod der russisch-orthodoxen Kirche hat eine Erklärung zur Hagia Sophia
verfasst. Die Erklärung trägt das Datum vom 16./17. Juli. Übrigens das Datum der Ermordung der Zarenfamilie durch die Bolschewisten (im Jahre 1918)
>>Die Heilige Synode der Russisch en Orthodoxen Kirche bedauert zutiefst die Entscheidung der türkischen Behörden, die Sophienkirche ihres Museumsstatus zu berauben und sie der muslimischen Gemeinschaft zu übergeben.
Diese Entscheidung wurde getroffen, ohne die Petitionen und die ausdrückliche Position der Vorsteher und Hierarchen der orthodoxen Ortskirchen, der Vertreter ausländischer Staaten, zahlreicher internationaler Öffentlichkeits- und Menschenrechtsorganisationen, Geistlicher verschiedener Konfessionen und religiöser Traditionen zu berücksichtigen. Sie verletzt die religiösen Gefühle von Millionen von Christen auf der ganzen Welt, was dazu führen kann, dass das interreligiöse Gleichgewicht und das Verständnis zwischen Christen und Muslimen nicht nur in der Türkei selbst, sondern auch anderswo gestört wird.
In einer Zeit, in der das Christentum an vielen Orten auf der Welt eine verfolgte Religion ist, in der der Exodus der Christen aus dem Nahen Osten anhält, ist diese Entscheidung der türkischen Behörden besonders schmerzhaft. Das Gotteshaus der Heiligen Sophia wurde zu Ehren Christi, des Erlösers, erbaut und ist in den Köpfen von Millionen von Christen nach wie vor ein Gotteshaus. Für die orthodoxe Kirche hat dieses eine besondere historische und spirituelle Bedeutung.
Wenn wir uns an die brüderlichen Ortskirchen wenden, stellen wir mit besonderer Trauer fest, dass ein so freudloses Ereignis für die Heilige Orthodoxe Kirche heute die orthodoxe Welt ohne echten Zusammenhalt trifft, was eine direkte Folge der antikanonischen Legalisierung des Schismas in der Ukraine war und unsere Fähigkeit schwächte, neuen spirituellen Bedrohungen und zivilisatorischen Herausforderungen gemeinsam zu begegnen. Jetzt, im Zeitalter wachsender Christianophobie und zunehmenden Drucks der säkularen Gesellschaft auf die Kirche, ist Einheit noch mehr als zuvor erforderlich. Wir rufen die brüderlichen Ortskirchen auf, im Geist des Friedens und der Liebe zu Christus gemeinsam einen Weg aus der Krise zu suchen.
Wir hoffen, dass die türkischen Behörden die notwendigen Anstrengungen unternehmen werden, um die auf wundersame Weise überlebenden unschätzbaren christlichen Mosaiken zu erhalten und christlichen Pilgern den Zugang zu ihnen zu ermöglichen.
In der Hoffnung auf die weitere Bewahrung und Stärkung des gegenseitigen Respekts und Verständnisses zwischen Gläubigen verschiedener Weltreligionen appellieren wir an die Weltgemeinschaft, alle erdenkliche Hilfe zu leisten, um den besonderen Status der Sophienkirche, der für alle Christen von bleibender Bedeutung ist, zu erhalten.<<
Juli 20, 2020 No Comments
Die gesunde Seele – Übersetzung eines Blogbeitrags von Vater Tryphon
>>Jeder Tag bringt uns neue Herausforderungen zur Gesundheit unserer Seele. Die Momente, wenn ein Familienmitglied oder Arbeitskollege eine Bemerkung macht, die dich einfach nur verärgern soll, das sind die Momente in denen du dein Herz beschützen musst. Wenn diejenigen in deiner Umgebung klatschen und tratschen über einen Abwesenden, dann ist das deine Gelegenheit, zu schweigen und dich nicht daran zu beteiligen. Der Autofahrer, der dich auf der Autobahn geschnitten hat; die Frau, die hinter dir in der Checkout-Schlange am Flughafen drängelt, der unhöfliche Nachbar; das sind Momente in deinem Leben, in denen du die Kontrolle zurückerlangen und deine Spiritualität stärker wachsen lassen kannst.
Wenn Prüfungen und Versuchungen auf ein friederfülltes Herz treffen, fördern sie Heilung und machen die Seele so viel stärker und gesünder. Auf sie zu reagieren ergibt nichts weiter als eine Lähmung der Seele, Reaktionen fesseln uns an unsere gefallene Natur. Alle Versuchungen mit einem friedvollen Herzen annehmen und nicht auf äußere negative Reize zu reagieren, hilft dir dabei, dich für die nächste Runde an Prüfungen und Versuchungen vorzubereiten. So wirst du ganz allmählich und Schritt für Schritt erleben, dass der Frieden Jesu dich in jeder Sekunde des Tages erfüllt und dir einen frohen Geist und ein friedvolles Herz schenken wird.
Mit Liebe in Christo,
Abt Tryphon.
<<
Nachbemerkung von mir: Mein heutiger negativer Stimulus war die Nachricht, dass die ehemalige Hauptkirche der frühen Christenheit zu einer Moschee umgewandelt werden und dort am 24. Juli das erste Freitagsgebet abgehalten werden soll.
Wie ich so vor mich hin ergrimme, klicke ich auf meine derzeitige Lieblingsseite, die von Abt Tryphon. Und lese diesen Impuls von heute. Und passenderweise hat er ihn, und das war vermutlich reiner Zufall und schiere Koinzidenz, mit einem Foto bebildert, wie orthodoxe junge Männer ihr Retreat in seinem Kloster mit dem Hissen der byzantinischen Fahne begonnen haben.
Gott hat einen sehr wundervollen, sehr feinen Humor. Es ist wirklich an uns, ihn zu ergründen, anstatt uns über unsere Emotionen und Ressentiments den sauberen Blickwinkel zu verbauen. Und letztlich ist das Osmanische Reiche ja auch einstmals untergegangen. Erdogans Zeit wird auch irgendwann vorüber sein.
What comes up, must come down.
Juli 11, 2020 No Comments
Buchbesprechung für Cicero – Juri Buida: Nulluhrzug
Im Juni-Heft des Cicero findet sich eine Buchbesprechung von mir, die aus Platzgründen leider stark gekürzt werden musste. Ich veröffentliche sie hier nach Rücksprache in voller Länge, weil mir die russische Literatur als studierte Slawistin sehr am Herzen liegt und ich Juri Buida für einen der aktuell besten russischen Schriftsteller halte. Leider tun sich deutsche Verlage mit zeitgenössischer russischer Literatur eher schwer – und ich habe vor einigen Jahren ein Interview mit einer der besten Übersetzerinnen aus dem Russischen ins Deutsche gelesen, die ich kenne, die sich aber leider aus lauter politischer Korrektheit zum Beispiel weigert, einen Mann wie Zakhar Prilepin zu übersetzen. Wenigstens liegt eines seiner Bücher mittlerweile auf Deutsch vor, zu bedanken haben wir uns dafür bei Matthes und Seitz und dem Übersetzer Erich Klein – und ich kann das Buch „Sankya“ nur dringend empfehlen.
Nun aber zu Buidas Nulluhrzug:
>>Man müsste sich Solschenizyns Helden aus seiner Gulag-Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ als einen glücklichen Mann vorstellen, wenn man ihn mit Iwan Ardabjew, dem Helden oder vielmehr Antihelden aus Juri Buidas Roman „Nulluhrzug“ vergleichen wollte.
Ardabjews Welt besteht aus Gleisen, Schwellen, Ausweichstellen, Kohlebunkern, Eisenbahnbrücken, Schlossereien und Werkstätten sowie ein paar Baracken, in denen die Menschen, die an dieser Bahnstrecke angesiedelt worden sind, mehr hausen als leben können. Der einzige Zweck des Daseins dieser Station Nummer Neun und ihrer Siedler – das sind neben Ardabjew noch sein Wahlbruder Wassili mit dessen Frau Gussja und ein jüdisches Ehepaar, die schöne Fira und ihr Mann Mischa – , besteht darin, täglich oder besser mitternächtlich das reibungslose Durchfahren des Nulluhrzuges zu gewährleisten, der aus hundert Waggons mit verplombten Türen und vier Lokomotiven besteht, und von dem keiner weiß, was er eigentlich transportiert: Holz,Werkzeug oder gar Menschen; und wenn Menschen, dann wohin, in welche Lager, von denen Station Neun nur eine Außenstation ist. Und so warten sie, diese Handvoll Existenzen, jeden Tag aufs Neue auf den „Nuller“: „So wartet man auf Gott oder den Teufel … aber nicht auf einen Zug“ wirft Gussja Ardabjew einmal vor und bezeichnet damit die schiere Leerheit seiner Existenz in deprimierender Umgebung, bei scheußlichem Essen wie Büchsenfleisch, Kartoffeln, Kohl – und der Autor erzählt dies stringent auf die alles vernichtende Katastrophe hin zu Ende.
Ardabjews Charakter bleibt merkwürdig unkonturiert, wir erfahren, dass er der Sohn eines Volksfeindes ist und sein Vater die Mutter vor den Augen des Zehnjährigen erschoss. Dass er eine große Vorliebe fürs Dominospielen hat, weshalb sein Spitzname Don Domino lautet, und ein Buch von Dumas besitzt, dessen Titel der Autor des Nulluhrzuges unerwähnt lässt. Ardabjew ist weiterhin ein geradezu besessener Liebhaber, der es bereits mit allen Streckenhuren getrieben hat, und zwar so wild und ausdauernd, dass eine der Frauen ihre Brandwunde am nächsten Morgen mit Soda und Ei kühlen muss. Neben dieser heftigen erotischen Leidenschaft und einem außergewöhnlichen Stehvermögen besitzt Ardabjew aber einen besonderen, einen surreal-poetischen Blick auf weibliche Schönheit. Auf Fira, die schöne verheiratete Jüdin, die einzige, die er nicht besitzen kann. Sie hatte er einmal dabei beobachtet, wie sie sich in einer Waschschüssel wusch und dabei wundervolle Dinge gesehen: Die ganze prachtvolle Frau wurde vor seinen Augen – durchsichtig! Er konnte ihr „vogelgleich flatterndes Herz“, ihre „dunstig-massive Leber“, die durchsichtige silberne Glocke“ der Harnblase, hellblaue Knochen, „schwimmend im rosa Gelee“ ihres Leibes erkennen. Der Anblick ist so atemberaubend, dass er davonstürzt, vor dieser phantasmagorischen Schönheit der Frau flieht, er weglaufen muss. Zulaufen dagegen wird ihm im Wortsinne die Streunerin Aljona, die davon überzeugt ist, Menschen im „Nuller“ spüren zu können und sich wie eine Besessene um Mitternacht auf die Gleise legt, den Zug über sich hinweg donnern lässt, bis sie dabei grauenvoll zu Tode kommt.
Danach geschehen nur noch außerplanmäßige Dinge: Es kommen eines Nachts nacheinander zwei, drei, vier Nulluhrzüge. Ein andermal hält der Nuller an, anstatt wie immer durchzufahren. Als Ardabjew an die achte Station telegrafiert, erhält er die kryptische Antwort, dass es keine neunte Station und auch gar keinen Zug gebe …
Kafka soll beim Verlesen seiner verstörenden Geschichten häufig gelacht haben; Gorki bescheinigte Andrei Platonow einst, eine seiner Erzählungen grenze an einen finsteren Albtraum. Es gibt große Anklänge an diese beiden Autoren, vielleicht knüpft Juri Buida, im Jahr 1954 – ein Jahr nach Stalins Tod – im Kaliningrader Gebiet geboren, im „Nulluhrzug“ an deren literarische Tradition an. Im Grunde aber erzählt er in einem ganz eigenständigen Tonfall, der von Ganna-Maria Braungardt wie immer gekonnt ins Deutsche übersetzt wurde. Der „Nulluhrzug“ wurde unter dem Titel „Don Domino“ 1993 zuerst in der Moskauer Zeitschrift „Oktjabr“ veröffentlicht und ein Jahr später für den Russischen Booker Prize nominiert.
Juri Buida: Nulluhrzug
Gebunden mit Schutzumschlag, 142 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-351-03785-7
Juli 5, 2020 No Comments