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Rod Dreher: Lebt nicht mit der Lüge


Wer seinen Bestseller „Die Benedikt Option“ gelesen hat, weiß um die besondere Fähigkeit dieses US-amerikanischen Autors, Menschen und Themen, die schon längst vergangen und vergessen geglaubt wurden, für eine interessierte christliche Leserschaft in völlig neue Zusammenhänge zu setzen, die mit unserer Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert eng verschränkt sind.
In seinem jüngst im Media Maria Verlag auf Deutsch erschienen Buch bedient er sich einer Aufforderung des großartigen Schriftstellers, Literaturnobelpreisträgers und Dissidenten Aleksander Solschenizyn: Lebt nicht mit der Lüge! Unter Stalin wurde der mehrfach ausgezeichnete Hauptmann der Roten Armee wegen kritischer Äußerungen über den damaligen Präsidenten, die er einem Freund gegenüber tätigte, von der Front weg verhaftet und ins GULAG geschickt. Die Erfahrungen dort von 1945 bis 1953 haben sein schriftstellerisches Werk zutiefst geprägt. Nach der Entlassung schickte man ihn in die Verbannung nach Kasachstan. In den Sechzigern erging es ihm vergleichsweise gut, es war die so genannte Tauwetter-Periode unter Chruschtschow, doch 1974 wurde er erneut wegen Landesverrat verhaftet – aufgrund der Veröffentlichung seines erratisch dastehenden Werkes „Archipel Gulag“. Wenige Tage nach der Verhaftung wird er nach Deutschland ausgeflogen und findet vorübergehende Aufnahme bei Heinrich Böll in Köln. Es sollte dann noch über 15 Jahre dauern, bis das System, gegen das der glühende Patriot angekämpft hatte, in sich zusammenbrach. Doch es war auch dieser Zusammenbruch, der diesen Ausnahmeschriftsteller beschäftigte und belastete – und den er viel weniger als Befreiung sah, als viele im Westen. Was aber hat das alles mit uns heute überhaupt noch zu tun? Das ist eine Geschichte aus einer versunkenen Welt, der Kalte Krieg ist vorüber, der Kommunismus und die Sowjetunion gehören zu tempi passati. Und überhaupt haben Europa und die USA mittlerweile ganz andere Sorgen. Aber ist das wirklich so? Rod Dreher beschreibt in seiner Einleitung, dass ihn ein prominenter Arzt angerufen habe, dessen Mutter noch in der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen war. Sie sei
besorgt um die Freiheit im Westen. Nun kann man das natürlich als Hirngespinst abtun. Aber Rod Dreher ging der Aussage nach. Wie alle anderen auch war er davon überzeugt gewesen, dass mit dem Jahr 1989 der Totalitarismus beendet worden sei. Bis dieser Anruf kam. Und er ist auf viele Menschen gestoßen, die derzeit noch am Leben sind, und Zeugnis ablegen von dem „harten“ Totalitarismus, wie Dreher ihn nennt und den frappierenden Ähnlichkeiten zum heutigen „weichen“ Totalitarismus mit seinen Denk- und Sprechverboten, seiner Wokeness, der fanatischen Transgender-Agenda und der so genannten Cancel Culture. Aber auch die totale Überwachung des Bürgers durch Datensammlungen via Kreditkarte, Smartphone, gezielte Auswertung von Google-Suchbegriffen des Nutzers, Facebook, X und Instagram, auf denen die Nutzer freiwillig private Daten offenbaren bis hin zur Lancierung von smarten Lautsprechern in Wohnungen bzw. Häusern wie Alexa usw. Letzteres übrigens eine Tatsache, die von ehemaligen Dissidenten, deren Wohnungen von der Überwachungsbehörde verkabelt wurden, auf vollständiges Unverständnis stößt.
Eine Beschreibung dieses Zustandes nimmt die erste Hälfte des Buches ein und Dreher schafft es, nicht nur eine zutreffende Analyse des Ist-Zustandes zu liefern, sondern auch die Aussagen und Zeugnisse von Menschen, die in kommunistischen Staaten bespitzelt, bedroht und verfolgt wurden, für die Nachgeborenen zu dokumentieren.
In der zweiten Hälfte geht es um die Frage: Was tun angesichts dieser Realität des weichen Totalitarismus im vordergründig freien Westen?
Dreher gibt hier analog zum Dissidententum im Ostblock Tipps an die Hand, die zunächst banal klingen: Abseits der Masse leben, das kulturelle Gedächtnis pflegen, Familien und religiöse Gemeinschaften zu Rückzugsorten machen etc. Die Lektüre lohnt sich, auch wenn diese Hilfen auf den ersten Blick banal klingen mögen, denn er bleibt nie theoretisch, sondern erzählt immer von realen Menschen und deren Erfahrungen, auf die er zurückgreift – und hilft so zu einem großen Teil selbst mit, das kulturelle Gedächtnis zu pflegen.
Wer die 80er Jahre noch erlebt hat, mithin die Ära des Kalten Krieges, dem wird vieles bekannt vorkommen und in neuen Zusammenhängen aufgezeigt. Wer nach 1989 geboren wurde, kann aus diesem Buch mehr erfahren als aus manchen Geschichtsbüchern – nämlich großartige Persönlichkeiten und Schriftsteller kennenlernen, sich vielleicht vertiefter mit ihnen beschäftigen. Und das eigene selbstständige Denken kultivieren.

Rod Dreher: Lebt nicht mit der Lüge
ISBN 978-3-9479314-8-4
Media Maria Verlag Illertissen, 2023

Januar 3, 2024   No Comments