Posts from — Januar 2014
Das entflammte Herz – Die Ewigkeit als Maß
Die geistliche Liebe zwischen dem Fürstbischof von Genf, Franz von Sales und Baronin Johanna Franziska von Chantal darf man wohl als eine der innigsten und inspiriertesten – dabei vollständig reinen – Verbindungen bezeichnen, welche die katholische Kirche kennt. Sie führte im Juni 1610 zur Gründung der Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, kurz Salesianerinnen genannt, die heute, mehr als vierhundert Jahre später, mit über 150 Klöstern auf vier Kontinenten vertreten ist und wiederum Heilige wie Margareta Maria Alacoque sowie Selige wie Mutter Gabriele de Hinojosa und ihre Gefährtinnen, die Sieben Märtyrerinnen von Madrid in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, hervorbrachte.
Zu einer ersten Begegnung zwischen Franz von Sales und der Baronin von Chantal kam es in der vorösterlichen Zeit des Jahres 1604 in Dijon. Franz ist zu dieser Zeit 36 Jahre alt und seit zehn Jahren als Priester und Seelsorger tätig, seit knapp zwei Jahren Bischof von Genf mit Amtssitz in Annecy. Anlässlich einer Fastenpredigt weilte er in Dijon, wo ihn sein Amtskollege, der Erzbischof von Bourges, seiner Schwester Johanna Franziska vorstellte.
Beide sollen einander in Visionen bereits vor diesem ersten, wirklichen Treffen, gesehen und sich sogleich erkannt haben. Wenige Tage später, am 26. April 1604, schreibt Franz einen ersten, äußerst kurzen, aber inhaltsschweren Brief: „Gott, so scheint es mir, hat mich Ihnen gegeben; dies wird mir mit jeder Stunde mehr zur Gewissheit. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen vermag. Empfehlen Sie mich Ihrem Schutzengel.“
Mit diesen knappen Zeilen beginnt ein wunderschöner Briefwechsel, der nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die französische Literaturgeschichte bereichert hat.
Franz von Sales, am 21. August 1567 auf Burg Sales als erstes von zwölf Kindern zur Welt gekommen, durchlitt während seiner Studienjahre am Pariser Kolleg eine furchtbare Glaubenskrise, die ihn zuletzt auch körperlich erkranken ließ: Er war mit der calvinistischen Lehre von der Vorherbestimmung in Berührung gekommen, nach der bereits von Ewigkeit her durch Gott entschieden sei, wer unabänderlich zur Verdammnis bestimmt sei und wer nicht. Der Gedanke beschäftigte ihn intensiv. Schließlich wurde er derart von der Vorstellung beherrscht, er selbst gehöre von Anbeginn der Zeit an zu den Verdammten, dass sich die Verzweiflung seiner Seele auch körperlich manifestierte. Nach einigen Wochen der Krankheit wusste sich der kaum Zwanzigjährige nicht mehr anders zu helfen, der Zenit seiner Angst und Depression war überschritten: Mit äußerster Anstrengung und unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte schleppte er sich in eine nahe gelegene Kirche, wo er sich mit einem Memorare an die Jungfrau Maria wendet, einem Gebet der ebenso flehentlichen wie vertrauensvollen Zufluchtnahme zur „Mutter des Wortes“. Franz überwindet seine Krise, in dem er sich mit absoluter Unbedingtheit unter dem Schutzmantel Mariens in die Arme des gütigen, barmherzigen Gottes wirft, der die Liebe ist. Ihm übergibt, ihm weiht er an Ort und Stelle, in der Kirche St. Etienne de Gres, sein gesamtes Leben.
Es ist nicht zuletzt wohl dieser Begebenheit seiner Jugendzeit zuzuschreiben, dass er später so erfolgreich im Kampf gegen die calvinistischen Irrlehrer vorgehen kann, die im Chamblais-Gebiet des Bistums Genf fast die gesamte Bevölkerung für sich gewonnen hatten. Franz nahm kurz nach seiner Priesterweihe 1593 die Rückeroberung des Chamblais für die heilige Mutter Kirche in Angriff und nutzte dafür eines der ersten Massenkommunikationsmittel überhaupt – das Flugblatt. Mit seinen im wahrsten Sinne aufklärerischen Worten über die wahre, liebevolle Natur Gottes, seinem authentischen Stil der Warmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit, der sich nie zum Pamphletisieren herablässt, kann er in nur vier Jahren die gesamte abgefallene Region für die Kirche zurückgewinnen. Insbesondere durch diese beherzte und innovative Tat empfahl er sich geradezu als Schutzpatron der katholischen Journalisten.
Baronin von Chantal ist zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung mit von Sales seit vier Jahren verwitwet. Ihr Ehemann, mit dem sie sehr glücklich war und dem sie sechs Kinder gebar, von denen allerdings zwei sehr jung verstarben, kam im Jahre 1600 bei einem tragischen Jagdunfall zu Tode. In ihrem tiefen Schmerz wandte sie sich Gott zu, sie wollte ganz nach seinem Willen leben. Doch wie diesen Willen erkennen? Sie wendet sich einem Seelenführer zu, dem sie verschiedene Gelöbnisse macht, unter anderem etwa, sich niemals einen anderen geistlichen Führer zu suchen. Doch nun steht da die erste Begegnung mit Priester und Bischof, in dessen Seele sie sich erkennt, der sie, unter Berufung auf den göttlichen Willen, als eine Gabe, ein Geschenk betrachtet und daran keine Zweifel aufkommen lässt. Denn Johanna Franziska ist zunächst sehr ängstlich und voller Skrupel, weil sie sich bereits an einen geistlichen Vater gebunden sieht und ihm sozusagen die Treue gelobt hat. Zunächst muss also diese Sache geklärt werden – Franz geht sowohl mit seelsorgerlicher Umsicht wie auch mit freundlicher Diplomatie vor, immer im klaren Bewusstsein, dem Willen Gottes zu gehorchen. Im gleichen Jahr kommt es zu einer zweiten persönlichen Begegnung zwischen den beiden anlässlich einer Wallfahrt nach Saint Claude. Er schreibt: „Ich habe die ganze Nacht auf Ihre Angelegenheit verwendet. Ich sehe, es ist der Wille Gottes, dass ich die Leitung Ihrer Seele übernehme und Sie meinen Weisungen folgen. Diese vier Gelübde [Anm: an den vorherigen Seelenführer] taugen zu nichts, als Ihren Seelenfrieden zu zerstören.“
Neben dem literarischen Genuss, den die Lektüre dieser Briefe an die Baronin bieten, ist es vor allem der geistliche Trost, den man darin vorfindet und noch heute jedem Seelsorger eine Anleitung und Hilfe bieten kann. Als Hauptthemen finden sich darin immer wieder: Freiheit, Demut, Vollkommenheit und Ermutigung zur Geduld im Tragen des Kreuzes. Die Gewissensbisse und Ängste wegen – eingebildeter oder tatsächlicher – Versuchungen, denen sich Johanna Franziska bis zur unerträglichen Pein ausgesetzt sieht, lindert er durch schlichte, aber einsichtige Worte: Die Versuchung und die Freude an der Sünde kämen vom Teufel, Leid und Qual deswegen aber schickt uns der barmherzige Gott, durch sie läutere er das Gold: „Verachten Sie die Versuchung, umfangen Sie die Prüfung!“
Von Sales ist sich von Anfang an völlig bewusst darüber, wie der Charakter seiner geistlichen Tochter beschaffen ist, als hätte er sie tatsächlich schon längst gekannt, und nicht erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal gesehen. Ihr asketischer Eifer braucht eher Mäßigung denn Ansporn, ihr übertriebenes Pflichtbewusstsein, ihr innerer seelischer Scharfrichter, der sie beständig zu verurteilen scheint, braucht mehr Milde – und sollte eigentlich am Besten in den Ruhestand versetzt werden. So schreibt dieser hochbegabte Seelenführer also: „Wenn Sie Gehorsam und Unterordnung sehr lieben, ist es mein Wunsch, – dies soll für Sie eine Art Gehorsam sein – dass Sie aus einem berechtigten Grund oder aus Nächstenliebe Ihre Übungen unterlassen und diese Unterlassung durch die Liebe ausgleichen.“
Immer wieder preist er ihren Witwenstand, rät ihr dazu, zunächst darin zu verbleiben, anstatt sich in ein Kloster zurückzuziehen. Nicht nur Erbauliches findet sich in diesen Briefen an die Baronin, auch kleine Anekdoten über seine Erlebnisse, Gespräche über ihre Kinder, Beschreibungen von Unwettern und Unglücksfällen, die ihn besonders beschäftigen – und immer wieder das Eingeständnis seiner Armseligkeit und die Bitte um Gebet.
Aus Juli 1605 stammt eine mit besonderem Feingefühl und geistlicher Umsicht geschriebene Empfehlung auf Johannas Anfrage, wie sie demjenigen gegenübertreten solle, der damals den Unfalltod ihres Mannes verursacht habe. Mit Verweis auf die Schmerzen Jesu beim Anblick des toten Lazarus, rät er ihr nachdrücklich, eine Begegnung mit diesem Unglücklichen nicht ausdrücklich zu suchen. Sollte sich eine ergeben, so solle sie trotz ihrer aufsteigenden Schmerzen und Qualen ein gütiges, liebenswürdiges und mitfühlendes Herz mitbringen, um zu bezeugen, dass sie alles in Liebe annehme, sogar den Tod ihres Mannes. Er schließt mit einem bezaubernden Bild: „Gott befohlen, meine Tochter; bleiben Sie in Frieden, stellen Sie sich auf die Fußspitzen und strecken Sie sich weit dem Himmel entgegen!“
Ohne dass Franz das Thema weiter auszubreiten sucht, finden wir auch immer wieder in seinen Briefen an die geistliche Tochter poetische Formulierungen, die seine Liebe zu ihr ausdrücken sollen – eine „Zuneigung, weißer als der Schnee und reiner als die Sonne“. So schreibt er am 1. November 1604: „Ich schenke Sie selbst, Ihr Witwenherz und Ihre Kinder alle Tage dem Herrn, wenn ich ihm seinen Sohn darbringe. Beten Sie für mich, meine liebe Tochter, damit wir uns einst mit allen Heiligen im Himmel wiedersehen. Mein Wunsch, Sie zu lieben und von Ihnen geliebt zu werden, hat kein geringeres Maß als die Ewigkeit.“
Und diese tiefe Zuneigung brachte reiche geistliche Frucht hervor. Am 6. Juni 1610 gründete Franz von Sales, gemeinsam mit Johanna Franziska, die Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, im deutschen Sprachraum auch Salesianerinnen genannt. Er erfüllte damit seiner geistlichen Tochter gleichzeitig einen großen Wunsch, nämlich ihr Leben nach einer Ordensregel zu führen. Aus der Hand ihres spirituellen Mentors nimmt sie den Habit entgegen, vor seinen Augen und Ohren legt sie ihre Ordensgelübde ab. Sie ist nun fast am Ziel ihrer Wünsche. Nur eine – sehr exaltierte – Bitte erfüllt ihr der gute Gott nicht: Dass sie vor ihrem geliebten geistlichen Vater sterben möge. Am 28. Dezember 1622 stirbt Franz von Sales nach einem rastlosen, von der Hingabe und dem Dienst an anderen erfüllten Leben an den Folgen eines Schlaganfalls. Kurz zuvor hatte er Johanna Franziska noch mit diesen Worten gewürdigt: „Nur mit Hochachtung spreche ich von dieser durchaus heiligen Seele. Man kann nicht größeren Verstand mit tieferer Demut vereint sehen. Sie ist einfach und innig wie ein Kind, verbindet aber damit eine ernste und erhabene Urteilskraft. Sie ist eine große Seele, die für heilige Unternehmungen einen Mut beweist, der sonst ihrem Geschlecht nicht eigen ist. Mit einem Wort: Ich lese nie die Beschreibung Salomons von der vollkommenen Frau, ohne an die ehrwürdige Mutter Chantal zu denken.“
Es ist wohl auch seiner Umsicht zu verdanken, dass seine liebe Tochter und geistliche Mutter, als die er sie sehr wohl auch ansah, nicht spirituell verwaiste: Kein geringerer als der heilige Vinzenz von Paul wurde danach ihr engster Vertrauter. Sie stirbt am 13. Dezember 1641 in Moulins. Am selben Abend sieht der heilige Vinzenz eine kleine, feurig-glühende Kugel ins Firmament aufsteigen. Und der Himmel öffnet sich. Ein etwas größerer Feuerball kommt ihr entgegen und beide vereinen sich, um weiter hinaufzusteigen, bis sie außer Sichtweite sind. Wenig später erreicht ihn die Nachricht vom Tode Johannas. Da erst begreift er, was er an diesem Abend sah: Wie Franz von Sales’ Seele der Seele seiner Liebsten entgegenkam, um sie in die himmlische Heimstatt zu führen. Der Rest dieser wunderbaren Geschichte ist schnell erzählt.
Mutter Chantal wird am 21. August 1751 selig gesprochen, am 16. August 1767 heilig.
Von Sales wird von Papst Alexander VII. 1661 zuerst selig, vier Jahre später heilig gesprochen. Am 19. Juli 1877 erhebt Pius IX. ihn zum Kirchenlehrer.
Dies geschieht noch zu Lebzeiten eines berühmten deutschen Philosophen, der nicht nur formulierte, dass Gott tot sei, sondern auch von der Lust sprach, die tiefe, tiefe Ewigkeit wolle. Vielleicht hätte er sich eingehender mit dieser einzigartigen, sublimen Liebesgeschichte beschäftigen sollen. Dann hätte er womöglich erkannt, dass sich die Lust immer nur nach der Ewigkeit ausstrecken, sie aber niemals erreichen kann. Alleine die Liebe, die wie „Tau vom Himmel kommt“, in der zwei Herzen gemeinsam auf Gott blicken, kann dieses ungeheuerliche Maß voll ausschöpfen. Oder, mit den Worten des heiligen Franz von Sales an seine geistliche Gefährtin: Mein Wunsch, Sie zu lieben und von Ihnen geliebt zu werden, hat kein geringeres Maß als die Ewigkeit.
[zuerst erschienen im Vatican-Magazin Juli 2013]
Januar 23, 2014 2 Comments