Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück. Ein weiterer Auszug
In diesem Buch schreibt die Goritschewa über ihre Begegnungen mit dem Glauben in vielen verschiedenen Ländern, die sie bereist hat. Im Dezember 1987 war sie in Nepal – dazu schreibt sie:
>> Eine Sache ist es, über Ahimsa zu lesen, und die andere ist es, dies mit eigenen Augen zu sehen: Die Menschen und die Tier hassen einander nicht. Ohne Streit überlassen sie einander den Platz unter der Sonne – wie heilsam das ist. Bei uns im Christentum empfinden nur die Heiligen und die Gottesnarren die Tiere auf diese Weise.Aber das Christentum ist doch nicht schlechter als der Hinduismus! Es gibt doch auch in unserer Tradition den Aufruf zur kosmischen Liebe, zum Mitleid. Warum ist bei uns das „liebende Herz“ in Vergessenheit geraten, das liebende Herz, das mit jedem Geschöpf mitfühlt und weint? Die heiligen Väter schreiben, dasss der Mensch im Paradies Herrscher, Prophet und Priester für alle Tiere war. Warum ist er heute zu einem so schamlosen und stumpfsinnigen Parasiten der natürlichen Welt geworden? [Diese hochaktuellen Zeilen wurden 1987 bereits geschrieben. Tatsächlich hat sich die Goritschewa in ihren späteren Jahren und nach ihrer Rückkehr nach Russland sehr stark und schwerpunktmäßig mit Ökologie und Bewahrung der Schöpfung beschäftigt.]
Denken wir an die kosmische Liturgie des heiligen Makarij des Großen und des heiligen Maximus Confessor. Haben wir weniger Grund als die Hindus, barmherzig zu sein? Oder weniger Anlass, die Idee der Kirchlichkeit auf kosmische Weise zu verstehen? Nicht einmal auf dem Basar hört man hier grobe Schreie. Und wenn in dem engen Raum einer mittelalterlichen Gasse zwei Kastenwagen aufeinanderstoßen, so werfen sich ihre Fahrer keine Schimpfworte an den Kopf, sondern sagen: Wir wollen denken, dass unser Zusammenstoß nicht wirklich war. Das ist der Schleier der Maja. Eine Harmonie zwischen Menschen verschiedener Herkunft [in Nepal gibt es eine Vielzahl von Nationen], zwischen Menschen und Tieren – das muss man erleben, eine Welt ohne Angst und Drohung. Schlafe ich wirklich nicht?<<
September 15, 2023 1 Comment
Tatjana Goritschewa – scharfe Kritikerin der deutschen katholischen Theologie
Ich lese zur Zeit ihre Werke – sie war eine zum Glauben gekommene russische Philosophin – und habe gemeinsam mit einer lieben Freundin, die mit ihr befreundet war und in engem Briefwechsel stand, einen Artikel über sie für die kommende Ausgabe des Vatican-Magazin geschrieben. Dass die osteuropäischen Dissidenten aus der Zeit des Kalten Krieges heute praktisch aktueller sind denn je, hat ja bereits Rod Dreher in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch „Lebt nicht mit der Lüge!“ festgestellt. Die folgende Passage aber hat mich aufhorchen lassen. Sie stammt aus ihrem Titel „Unaufhörlich sucht der Mensch das Glück“:
„Die Zeit liegt lange hinter mir, als ich an einer theologischen Hochschule in Deutschland [Anm. BW: Sankt Georgen in Frankfurt] studierte und die Erfahrung machen musste, dass da mehr über Gott gelacht wurde, als dass man, von seiner Größe und Herrlichkeit ergriffen, seine Wirklichkeit verkündet hätte. … Ich fahre auch schon lange nicht mehr auf theologische oder exegetische Tagungen, wo etwa selbstzufriedene modernistische Exegeten mit gelehrter Miene beweisen wollen, dass es den „Stern von Bethlehem“ nie gegeben hat (interessant genug, woher sie das so genau wissen) und dass selbst „Bethlehem“ nie existiert hat. … „Dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, das haben sich doch die Evangelisten nur ausgedacht. Eine ergreifende Unwahrheit, wollten sie doch nur, dass die alten Prophezeiungen in Erfüllung gehen.“ Und weiter erzählte man uns, dass Isaak älter als Abraham war und folglich nicht sein Sohn sein konnte und dass es natürlich auch das Opfer des Abraham nicht gegeben hat.
Eine schreckliche Erinnerung habe ich an eine Versammlung, bei der die Teilnehmer überwiegend katholische Priester waren. Als ich von der Wichtigkeit des Kreuzes sprach („Nimm dein Kreuz auf dich und folge mir nach“) stürzten sie sich auf mich wie auf eine Verbrecherin: „Das ist doch Masochismus.“ „Das Kreuz kam im Christentum erst sehr spät auf, die ersten Christen kamen auch ohne Kreuz aus“, so hielt man mir entgegen – aber die ersten Christen wurden eben auch gekreuzigt, deshalb brauchten sie das Symbol des Kreuzes nicht. …
„Was ist dann, Ihrer Meinung nach, das Ziel des christlichen Lebens?“, fragte ich diese gelehrten Männer. Eine Antwort: „Das Ziel ist, dass die ganze Gemeinde reich und gesund ist.“ Welch Primitivismus, welche Abgeschmacktheit! So weit sind nicht einmal die Bolschewiki heruntergekommen. Denn die Kommunisten möchten Reichtum und Gesundheit für alle, nicht nur für sich selbst. Und doch waren das keine dummen Leute, die das gesagt hatten. Im Gegenteil, an sich waren diese kirchlich bestallten Ausleger des Wortes Gottes sympathische, gebildete Menschen, die ihren Nächsten Gutes wünschten. Nur beten konnten sie überhaupt nicht (obwohl, wie gesagt, fast alle Priester waren). Die meisten sagten, dass die „Periode des Gebets“ bei ihnen schon weit zurückliege. Während eines äußerst kurzen „Gottesdienstes“, der diese Bezeichnung kaum verdiente [okay, alles, was unter zwei Stunden dauert ist kein Gottesdienst aus orthodoxer Sicht 🙂 – Anm. BW], erhellte sich das Gesicht nur bei einer alten Frau „aus dem Volk“, die sich zufällig dort eingefunden hatte. Die übrigen aber saßen wie vorher schon mit kalten und gleichmütigen Mienen da, als ob da irgendein Tagungsgeschehen abliefe.
Nach solchen „Konferenzen“ werde ich für gewöhnlich physisch krank […]“
Soweit die Goritschewa. Und es hat sich in 40 Jahren nix geändert, denn exakt so lief eine Präsenzveranstaltung des „Fernkurs Theologie Würzburg“ vor ein paar Jahren ab. Der Dozent erzählte uns genau dasselbe zu Bethlehem, Priester nahmen jedoch nicht teil. Und ich war die einzige Frau, die gegen Frauenweihe war.
Ich habe was mit Goritschewa gemeinsam. Das hat mich gefreut. Ja, und die alten Frauen „aus dem Volk“ sind es hüben wie drüben, die für ihre Kirche alles täten und auch tun.
September 14, 2023 No Comments
Der Dichter und Philosoph Vladimir Jakubow an Tatjana Goritschewa
„Haben die Menschen im Westen nicht das Gefühl für die Tragik des Seins, für die Realität des Bösen verloren? Sie stießen mit dem allerrealsten Bösen zusammen: mit dem Totalitarismus, dem Terrorismus, und wissen nicht, wie man moralisch anständig auf das Böse antworten kann. [Die Möglichkeit eines pseudomoralischen Empörungsgehabes wie zettbe ein Shitstorm kannte man Mitte der Achtziger noch nicht und wurde deshalb von Jakubow, der in Riga eine Lagerhaft verbüßte, auch gar nicht erst in Erwägung gezogen. Selbst wenn, hätte er wohl nicht ernsthaft als Möglichkeit betrachtet. – Anm. BW]Sie denken, sie könnten sich von ihm lösen, indem sie Kompromisse schließen, ‚gute Werke‘ vollbringen usw. Es ist uns nicht gegeben, zu wissen, wohin das führt. Natürlich kenne ich den Westen fast nicht, und so Gott will, habe ich unrecht. Aber mir scheint, daß es dort die Versuchung eines allzu wohlbehaltenen ‚rosaroten‘ Christentums gibt. Wenn man das Böse auch anerkennt, so nur als ein naturgegebenes oder ein soziales Böses, d. h. als Böses ohne individuelle oder charakteristische Eigenschaften und nicht als Böses, das sich in konkreten Personen angesiedelt hat. Und doch hat Christus Dämonen aus Menschen ausgetrieben. Aufgrund unserer russischen Erfahrung wissen wir, wie undurchdringbar das Böse zu sein pflegt, mit welchem Panzer es den Menschen umgibt – und keinen Zugang zur Seele läßt. Sonst könnte es weder Henker geben noch Opfer, weder Märtyrer noch ihre Peiniger … Es ist unvermeidlich, daß Verführungen kommen. Aber wehe dem, der sie verschuldet. (Lk 17,1). Und Jesus fährt fort, indem er über den Mühlstein spricht. Im Evangelium gibt es schreckliche Worte, die keinen Platz lassen für einen rosaroten Optimismus. Es seltsam, daß der Westen seine eigene Erfahrung des Bösen hat. Haben sie die Worte des Evangeliums vergessen?“
August 23, 2023 No Comments