Journalistin und Autorin

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Gewidmet den Märtyrern des 20. und 21. Jahrhunderts – San Bartolomeo all’Isola in Rom

In dieser finsteren Nacht der Welt, umgeben von Unbarmherzigkeit im Westen gegenüber Ungeborenen, Alten und Sterbenden und von Gnadenlosigkeit im Nahen Osten unter einem Kalifat des Gräuels, ist es für manchen oft sehr schwer, einen Lichtschein am Firmament zu erblicken. Dabei hängt in Wahrheit über uns als ein glühendes Spektakel, wie ein Vorhang, der Vorhang vor dem Allerheiligsten Gottes. Eine wogende aurora borealis, die sich hebt und senkt und wallend unsere Welt mit dem Feuer der Liebe und dem Ganzopfer der Hingabe des eigenen Lebens mit Purpur durchsträhnt. Wir müssen nur hinschauen, nach oben, inmitten der Dunkelheit, die uns umgibt, und unsere Augen weit aufreißen, dann können wir es lodern sehen.
Sein santuario hat es auf Roms Tiberinsel gefunden, seit alters her ein Ort der Heilung und Heiligung: Wo heute die vor über tausend Jahren erbaute Kirche San Bartolomeo mit dazugehörigem Kloster steht, befand sich einst ein Äskulaptempel mit Hospiz. Neben dem Eingang zur Kirche findet sich der Eingang zum jüdischen Kinderkrankenhaus, was die Präsenz von bewaffneten Frauen und Männern in Uniform erklärt. Auch die „Barmherzigen Brüder“, die „Fatebenefratelli“ führen hier auf der Tiberinsel ein Krankenhaus, auf der gegenüberliegenden Seite des Kirchplatzes mit dem ebenfalls aus dem Jahre 1000 stammenden Marmorbrunnen.
San Bartolomeo wird von der geistlichen Gemeinschaft Sant’Egidio betreut und ist heute, genauer seit dem Jahre 2002 ein echtes Heiligtum der besonderen Art: Sie ist dem Andenken an Märtyrer des 20. und 21. Jahrhunderts gewidmet und versammelt so viele Reliquienschätze an einem einzigen Ort wie vermutlich keine andere Kirche der Welt. Alles ging auf eine Idee des seligen Johannes-Paul II. aus dem Jahre 1999 zurück – anlässlich des bevorstehenden Heiligen Jahres ließ er eine Kommission für die „neuen Märtyrer“ einrichten, die das Blutzeugnis der Christen im 20. Jahrhundert dokumentieren sollte. Das Team nahm seine Arbeit in den Gebäuden der zu San Bartolomeo gehörenden Klosteranlage auf und trug im Laufe seiner Tätigkeit rund 12.000 Dossiers und unzählige Materialien wie Briefe, Stolen, Gebetbücher oder andere persönliche Gegenstände zusammen.

Am 12. Oktober 2002 wurde San Bartolomeo feierlich zur Gedenkstätte für die neuen Märtyrer proklamiert, wodurch Papst Johannes-Paul II. einmal mehr sein feines Gespür für historische Zusammenhänge bewies: Denn die Gebeine des heiligen Bartholomäus, einem Apostel Jesu, der von vielen Forschern auch als „Nathanael von Kana“, einem ehemaligen Jünger Johannes des Täufers identifiziert wird, liegen in einem Sarkophag unter dem Hauptaltar. Die Kopfreliquie gelangte zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert nach Deutschland und wird im Bartholomäusdom zu Frankfurt aufbewahrt, in dem lange Zeit die römisch-deutsche Kaiser und deutschen Könige gekrönt wurden.

Nathanael, den sie als Apostel Bartholomäus nannten, ging nach dem Pfingstereignis auf Missionsreise nach Ägypten, Indien und Armenien, wo er auch das Martyrium erlitt: Ihm wurde für die Zerstörung der dort verehrten Götzenbilder von einem Bruder des Königs bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, danach ans Kreuz geheftet oder auch, in einer anderen Fassung der Überlieferung, enthauptet. Dieses Geschehen solle sich im antiken Edessa, dem Urfa der modernen Türkei zugetragen haben, einer Stadt, die sich heute direkt an der Grenze zum Blutmolochreich des Islamischen Kalifats befindet.

Auf dem Hauptaltar befindet sich seit der Proklamation als Heiligtum für die neuen Märtyrer eine große, beeindruckende Ikone zu diesem Thema: Über dem ganzen Geschehen thront Jesus Christus, umgeben von Heerscharen von Engeln und Heiligen. Auf der sichelförmigen Wolke darunter stehen die Worte „Durch die große Bedrängnis hindurch“, darunter findet sich eine Kathedrale, gekrönt von Stacheldrahtzäunen, die ein Konzentrationslager symbolisiert, stellvertretend für die drei großen christlichen Konfessionen sind abgebildet der Lutheraner Dietrich Bonhoeffer, der einstige Patriarch von Moskau, Tichon, und der Dominikaner Giuseppe Girotti, der in Dachau ermordet wurde.
Des Weiteren sieht man auf der rechten Seite einstürzende Gebäude und Erschießungskommandos, die an den Völkermord an den Armeniern und das Leid der Christen in Albanien gemahnen. Ein anderer Bildabschnitt erinnert an gefolterte und getötete Bischöfe und Priester, unter ihnen auch Oscar Romero sowie Juan Gerardi und Giuseppe Puglisi – letztere wurden von der Mafia ermordet. Außerdem sind zu sehen Gefangene in einem rumänischen Kerker, ein Kloster auf einer der russischen Solovezkij-Inseln, das zu einem Gulag umfunktionierte wurde. Abgebildet ist auch ein katholischer Priester, der dort interniert war und einem alten orthodoxen Popen beistand, in dem er schwere Arbeit für ihn übernahm. Ein Beispiel, das zeigt, wie auch der abhängige und eingekerkerte Mensch noch für seinen Nächsten Akte der Liebe und Solidarität ausführen kann. Auch die Schar verfolgter Christen ohne Kennzeichen einer Nation erfüllen die göttlichen Gebote, indem sie in ihrer eigenen Bedrängnis noch andere speisen, sich um die Kranken kümmern und allen das Evangelium verkünden. Nähert man sich betrachtend und meditierend dieser Ikone über dem Hauptaltar, so spürt man das Wehen des göttlichen Liebesbrandes, Schrecken, Leid, Not und Tod transformieren sich zu Ereignissen mit tieferer, überweltlicher Bedeutung, die herrliche Ikone scheint wie umhegt von riesigen Engelsflügeln, das Schicksal all dieser bekannten und unbekannten Menschen eingehegt in das Gold, zu dem sie geworden sind, als sie durch die dargestellten Brennöfen gingen.

Von den acht Seitenkapellen sind sechs den modernen Märtyrern gewidmet und bergen Reliquienstücke verschiedenster Art und von Angehörigen der großen christlichen Konfessionen. In der Kapelle des heiligen Franziskus, die den Opfern des Kommunismus gewidmet ist, finden sich deshalb auch das Skapulier eines rumänisch-orthodoxen Archimandriten und der Rosenkranz eines orthodoxen Priesters, Aleksander Men’, der am 9. September 1990 in Moskau am Altar seiner Kirche erschossen wurde, während er die göttliche Liturgie zelebrierte. Am Bekanntesten dürfte für westliche Ohren der Name Jerzy Popieluszko klingen, der im Jahre 2010 selig gesprochen wurde. 1972 zum Priester geweiht, trat er seinen Dienst in der Nähe von Warschau an. Ab Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981 zog er mit seinen „Messen für das Vaterland“ immer größere Massen von Gläubigen an. In seinen Predigten prangerte er soziale Missstände, die Verletzung von Menschenrechten, den forcierten Atheismus und psychische wie physische Übergriffe des Regimes an.

Die Kapelle des heiligen Karl Borromäus ist den neuen Märtyrern des amerikanischen Kontinents gewidmet. Wir finden hier unter anderem das Messbuch des seligen Oscar Arnulfo Romero, Erzbischof von San Salvador, der am 24. März 1980 während einer Messe in der Krankenhauskapelle von San Salvador erschossen wurde. Sein gewaltsamer Tod gab das Signal zum Beginn des Bürgerkrieges in El Salvador.

In der Kapelle der heiligen Francesca Romana versammeln sich liturgische und persönliche Gebrauchsgegenstände zum Andenken an die neuen Märtyrer in Asien, Ozeanien und Nahost.
Dem Besucher ist das Berühren der Gegenstände üblicherweise verwehrt, so bleibt nur, sich betend auf den steinernen Absatz zu knien und um die Fürsprache von beeindruckenden Persönlichkeiten wie Shabaz Bhatti oder Don Andrea Santoro zu bitten. Bhatti war der zuständige Minister in Pakistan für die Minderheiten, er wurde in Islamabad am 2. März 2011, als in Deutschland der Kirchenkampf um das so genannte „Memorandum Kirche“ tobte, erschossen, weil er sich für den Dialog und für den Frieden in seinem Land unter den religiösen Minderheiten einsetzte. Berühmt geworden ist sein geistliches Testament, in dem er
ein klares und entschiedenes Bekenntnis zu Jesus Christus ablegt: „Ich denke, dass die Hilfsbedürftigen, die Armen, die Waisen, welcher Religion sie auch immer angehören, zu aller erst als Menschen zu sehen sind. Ich denke, dass diese Menschen Teil meines Körpers in Christus sind, dass sie der verfolgte und hilfsbedürftige Teil von Christi Körper sind. Wenn wir diese Mission zu Ende bringen, werden wir uns einen Platz zu Jesu Füßen verdient haben und ich werde Ihn anschauen können, ohne mich schämen zu müssen.“
Bhattis Bibel ist hier ausgestellt, neben Kelch, Patene und Stola von Andrea Santoro, einem missionarisch tätigen Priester in der Türkei, der von einem Jugendlichen am 5. Februar 2006 ermordet wurde, während er ins Gebet vertieft war. Auch Luigi Padovese, apostolischer Vikar in Anatolien, ereilte dieses Schicksal am 3. Juni 2010. In der Kapelle der heiligen Francesca Romana bewahrt man seine Mitra auf.

Den Opfern des Nationalsozialismus ist die Kapelle zu den schmerzhaften Geheimnissen gewidmet. Hier findet sich ein Brief des seligen Franz Jägerstätters, den er kurz vor seiner Enthauptung am 9. August 1943 aus dem Gefängnis schrieb. Außerdem findet sich dort eine Reliquie des seligen Kardinals Clemens August von Galen, dem Erzbischof von Münster, der sich unter dem Wahnsinn des Hitler-Regimes mutig in aller Öffentlichkeit gegen das Euthanasieprogramm an Kranken und Behinderten stellte, weshalb er auch den Beinamen „Der Löwe von Münster“ trägt.
Das Andenken an die neuen Märtyrer Europas bewahrt die Kapelle der „Madonna della Pace“ auf. Darunter auch Stola und Kreuz des Giuseppe Puglisi, der von Angehörigen der Mafia am 15. September 1993 ermordet wurde.

Die Kapelle des heiligen Antonius von Padua hütet persönliche Gegenstände von modernen Märtyrern in Afrika und Madagaskar, darunter auch das Kreuz, das Schwester Leonella Sgorbati zum Zeitpunkt ihres Todes trug. Sie wurde im Alter von 66 Jahren in Mogadischu von sieben Kugeln getroffen, als sie gerade das Krankenhaus verließ, wo sie Unterricht in Krankenpflege gegeben hatte.

Für jeden Rompilger ist die Basilika San Bartolomeo tatsächlich zu einem spirituellen must geworden, für jeden Christen, egal welcher Konfession oder Großkirche er angehört, wird der Besuch dieses Ortes einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Aber lassen wir unseren mittlerweile emeritierten Papst sprechen, der die Gedenkstätte am 7. April 2008 besucht hat, denn trefflichere Worte lassen sich kaum finden: „Der auferstandene Jesus durchleuchtet ihr Zeugnis. So können wir den Sinn ihres Martyriums verstehen. Es ist die Macht der Liebe, wehrlos und siegreich zugleich auch in der scheinbaren Niederlage.“
Dem betenden Pilger wird diese Einsicht aufgehen, und er wird getröstet und beeindruckt zugleich diese wunderbare Wallfahrtsstätte verlassen.


Ikone auf dem Hauptaltar „Attraverso la grande tribolazione“

/Zuerst erschienen in der Serie „Heiligtum der besonderen Art“ im Vatican-Magazin August-September 2015/

März 29, 2016   No Comments

Georges Bernanos: Tagebuch eines Landpfarrers (Auszug 2)

„Die Soldaten von damals gehörten nämlich der Christenheit an, und die Christenheit gehört heute keinem mehr. Es gibt keine mehr, es wird nie mehr eine Christenheit geben.“
„Warum?“
„Weil es keine Soldaten mehr gibt. Ohne Soldaten keine Christenheit. Oh, Sie werden mir erwidern, die Kirche lebt noch, und das sei die Hauptsache. Sehr richtig. Nur wird es kein Reich Christi in der Zeitlichkeit mehr geben. Die Hoffnung auf dieses Reich ist mit uns gestorben.“
„Mit Ihnen?“ rief ich aus. „Es fehlt doch nicht an Soldaten.“
„Soldaten? Nennen Sie das ruhig Militär. Der letzte echte Soldat ist am 30. Mai 1431 gestorben, und ihr habt ihn umgebracht. Gerade ihr! Schlimmer noch als umgebracht, ihr habt ihn verurteilt, ausgestoßen und dann verbrannt!“
„Wir haben ihn aber auch zur Heiligen erhöht!“
„Sagen Sie lieber: Gott hat es so gewollt. Und wenn er diesen Soldaten so hoch erhoben hat, dann eben deshalb, weil es der letzte war. Der letzte eines so edeln Geschlechts konnte nur ein Heiliger sein. Und Gott hat sogar gewollt, dass es eine Heilige war. „

Januar 29, 2015   No Comments

Die Lorica des heiligen Patrick

[via Evangelium Tag für Tag]

Hl. Patrick (um 385 – um 461), Mönch und Missionar, Bischof

Heute gürte ich mich mit der mächtigen Kraft der Anrufung der Dreieinheit, des Glaubens an den einen und dreieinen Gott, den Schöpfer des Universums.

Heute gürte ich mich mit der Kraft der Menschwerdung Christi und seiner Taufe, mit der Kraft seiner Kreuzigung und seiner Grablegung, mit der Kraft seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt, mit der Kraft seiner Wiederkunft am Tag des Gerichts.
Heute gürte ich mich mit der Kraft der Liebe der Seraphim, des Gehorsams der Engel, des Dienstes der Erzengel, in der Hoffnung auf die Auferstehung im Hinblick auf den himmlischen Lohn, mit den Gebeten der Patriarchen, den Prophezeiungen der Propheten, der Predigt der Apostel, der Treue der Bekenner, der Unschuld der heiligen Jungfrauen, gürte ich mich mit Taten aller Gerechten.

Heute gürte ich mich mit der Kraft der Himmel, mit dem Licht der Sonne, mit der Klarheit des Mondes, mit dem Schein des Feuers, dem Leuchten des Blitzes, mit der Schnelligkeit des Windes, mit der Tiefe des Meeres, mit der Standfestigkeit der Erde, mit der Härte der Steine.

Heute gürte ich mich mit der Kraft Gottes, um mich leiten zu lassen, mit der Macht Gottes, um mich halten zu lassen, mit der Weisheit Gottes, um mich unterweisen zu lassen, mit dem Augen Gottes, um mich behüten zu lassen, mit dem Ohr Gottes, um zu hören, mit dem Wort Gottes, um für mich zu reden, mit der Hand Gottes, um mich führen zu lassen, mit dem Weg Gottes, um mir voranzugehen, mit dem Schild Gottes, um mich zu beschützen, mit den Waffen Gottes, die mich den Fangnetzen der Dämonen, der Verführungen durch die Sünden, den Neigungen der Natur und all jener, die mir Böses wollen, entreißen wollen…

Christus mit mir, Christus vor mir, Christus hinter mir, Christus in mir, Christus unter mir, Christus über mir, Christus mir zur Rechten, Christus mir zur Linken, Christus wenn ich aufstehe, Christus wenn ich schlafen gehe, Christus in jedem Herzen, das an mich denkt, Christus in jedem Mund, der mit mir spricht, Christus in jedem Auge, das mich anschaut, Christus in jedem Ohr, das mich hört.

Heute gürte ich mich mit der mächtigen Kraft der Anrufung der Dreieinheit, des Glaubens an den einen und dreieinen Gott, den Schöpfer des Universums.

[Lorica oder auch Lorica-Gebet ist eine ursprünglich aus vorchristlichen religiösen Traditionen stammende Art des Segens- bzw. Schutzgebets. Der Begriff Lorica ist Lateinisch und bedeutet eigentlich Panzerung bzw. Brustpanzer. Mit diesem Begriff soll ausgedrückt werden, dass die Worte des Gebets wie ein Panzer vor allem Bösen schützen sollen.

Vor allem im keltischen Christentum bzw. der keltischen Kirche wurde die Lorica als Gebetsform gepflegt. Formal ist die Lorica als Hymne gestaltet und stellt daher eigentlich ein Schutzlied dar. Am bekanntesten ist die Lorica des heiligen Patrick. In Irland wird diese Lorica am Patrickstag sowohl bei der heiligen Messe als auch während der Parade gesungen. Der Überlieferung nach sollen der Heilige Patrick und seine Anhänger dieses Gebet auf ihrem Weg nach Tara zum König Laoghaire gesungen haben. Weniger bekannt ist dagegen die sog. Klosterneuburger Lorica. /zitiert von Wikipedia ]

September 13, 2014   2 Comments

Die „terra dei santi“ und ihr lächelnder Stern – Nikolaus von Tolentino und sein Heiligtum

[Zuerst erschienen im Vatican-Magazin Ausgabe Juni/Juli 2010]

Das Festungsstädtchen Tolentino bildet mit Osimo, wo der hl. Joseph von Copertino begraben liegt, Loreto mit dem Heiligen Haus aus Nazareth, dem unweit gelegenen Assisi, Cascia, Montefalco und zahlreichen anderen Orten eine terra dei santi aus den mittelitalienischen Provinzen Le Marche und Umbrien.
Tolentinum picenum, so lautete der alte Name des Städtchens am Chienti-Fluss, dem ehemaligen Siedlungsgebiet der alten Picener. Tolentino besaß bereits einen zuverlässigen Stadtheiligen, den Märtyrer Flavius Julius Catervus, aus einer vornehmen Senatorenfamilie, der unter Trajan die Tolentiner Bevölkerung christianisiert habe, weshalb er den Märtyrertod sterben musste.
Betritt man die Altstadt, so empfängt den Besucher und Pilger bereits direkt bei der Stadtpforte die antikisierend wiederaufgebaute Kirche S. Catervo, in welcher der beeindruckend Marmorsarkophag des Catervus aus dem 4. Jahrhundert aufbewahrt wird, der zu den künstlerisch bedeutendsten der Region zählt. Ihn zieren die Darstellungen vom Guten Hirten und von der Anbetung der Drei Könige.
Catervus ist heute der gatekeeper des Herzstücks von Tolentino: der Basilika des heiligen Nikolaus, dessen Travertin-Fassade von einem riesigen strahlenden Stern geschmückt wird. Der Stern, so heißt es, hat den Heiligen in den letzten Jahren seines Lebens begleitet. Er stieg über seinem Geburtsort, Castel S. Angelo, auf, wanderte über den Himmel und blieb immer über der Basilika stehen, wenn Nikolaus die Heilige Messe feierte.
Castel S. Angelo, unweit von Tolentino, ist der Ort, an dem diese Geschichte beginnt. Genau genommen beginnt sie im viel weiter südlich gelegenen Bari, denn die Eltern unseres Heiligen, kinderlos bislang, unternahmen eine Wallfahrt zum heiligen Nikolaus nach Bari, ihn um die Gnade eines Kindes zu bitten. Selbstverständlich boten die einfachen Leutchen dem großen Heiligen eine Gegenleistung an: Ordensmann oder Ordensfrau – ein Geschenk an die Kirche solle das ersehnte Kind einmal werden. Der Bischof von Myra fand diesen deal so fair, dass er ihren Wunsch 1245 erfüllte und gleich noch ein Sahnehäubchen drauf setzte: Aus seinem „Patenkind“ sollte einer der beliebtesten und geliebtesten Heiligen der italienischen Kirche werden.
Das 13. Jahrhundert hat der Kirche zahlreiche Kirchenlehrer und Theologen, charismatische und entschiedene Bischöfe, und so große Heilige wie Franziskus von Assisi geschenkt. Thomas von Aquin, Bonaventura, Albertus Magnus lehrten an den aufblühenden Universitäten, Mechthild von Helfta empfängt ihre Visionen, die Kreuzzüge sind endgültig gescheitert. Es ist das letzte Aufglühen vor den einsetzenden Wirren und dem Verfall von Papsttum und Kirche im 14. Jahrhundert mit dem großen abendländischen Schisma. Wie der Stern, der ihn begleitete, und den man häufig auf seiner Brust abgebildet sieht, strahlt unser Nicola noch in dieses dunkle Jahrhundert hinein, als wollte er denen, die treu im Glauben stehen, ein Licht in der umfassenden Finsternis sein, die die Kirche zu überwältigen drohte.
Große persönliche Frömmigkeit zeichnet jeden Heiligen der katholischen Kirche aus, bei Bruder Nicola kamen von klein auf Herzensgüte, Mitleidensfähigkeit und große Demut hinzu.
Es ließ sich allerbestens an: Mit 15 Jahren trat der fromme Knabe sein Noviziat im Augustinerkonvent an und bereits in diesem zarten Alter erwies er sich als „stark in den Prüfungen, tüchtig in den Tugenden und heroisch in der Buße“.
Nach seiner Priesterweihe durch den Bischof von Osimo und Cingoli im Jahre 1270 wurde er in einen Konvent bei Pesaro versetzt. Feierte er die Messe, so liefen ihm jedes Mal Tränen über das Gesicht, vor allem bei der Wandlung, weshalb das Volk herbeiströmte, um Zeuge seiner Ergriffenheit und Hingabe zu werden.
Seine ganze Hinwendung galt nicht nur den Kranken und reuigen Sündern, sondern insbesondere den Armen Seelen, die auf Erlösung aus dem Fegefeuer hofften. Dies geschah auf Intervention eines verstorbenen Mitbruders, der ihm eines Samstagnachts im Traum erschien und bat, die hl. Messe am Sonntag für die Verstorbenen zu feiern, damit er und alle anderen von ihren Qualen erlöst würden. Unser Nicola wusste, was sich für einen wahrhaft gehorsamen und demütigen Augustiner-Eremiten gehörte: Anstatt mit einem frommen Ausruf von der Pritsche zu schnellen, federnden Schrittes den Kreuzgang entlangeilen und den Pater Prior aus seiner Zelle zu trommeln, um ihm von dieser wundersamen Möglichkeit, Seelen zu retten, enthusiastisch zu berichten, wog er eine Weile den Kopf. Schließlich gab er dem verzweifelten Entschlafenen zu bedenken, dass er die Konventsmesse zu singen habe – eine absolut unverhandelbare Verpflichtung -, und deshalb keine Messe für die Verstorbenen feiern könne.
Pater Pellegrino, die Erscheinung aus dem Fegefeuer, musste mit einer solch spröden Reaktion gerechnet haben, denn er beschloss, ganz auf Breitbild-HDTV und höchste Dolby-Audioqualität zu setzen: Er zeigte Nicola das Tal von Pesaro, angefüllt mit lauter Seelen von Verstorbenen, die in einem riesenhaften Fegefeuer brannten – Stanley Kubrick hätte es nicht besser inszenieren können.
Nicola beeindruckte das Szenario insoweit, als er die Nacht im Gebet verbrachte und den Prior bat, eine ganze Woche lang die hl. Messe in der Fürbitte für die armen Seelen feiern zu dürfen. Sein Mitbruder erschien ihm abermals, um ihm zu danken und die Gewissheit zu geben, er habe den größten Teil der Seelen aus dem brennenden Tal retten können. Und so mehrte sich der Ruhm des jungen Nicola, dessen nächste Stationen Fano und Recanati waren, wo er ein totes Kind auferweckte, die Seele eines gemeuchelten Mitbruder aus dem Fegefeuer erlöste, die Kranken pflegte und die Verzweifelten tröstete.
1275 kam er nach Tolentino. Hier kümmerte er sich weiter intensiv um die Armen und Bedürftigen, und unterzog sich strengsten Bußübungen: er war ein beliebter und milder Beichtvater, der zu gütig war, um seinen Beichtkindern schwere Bußen aufzuerlegen. Stattdessen büßte er also für deren Verfehlungen und ruinierte sich nach und nach seine blühende Gesundheit. Niemand sah ihn jemals Fleisch, Eier, Fisch oder Obst essen. Stattdessen nahm er drei Gläser Wein mit Wasser vermischt pro Tag zu sich, wobei es vorkommen konnte, dass sich das Wasser in seinem Glas zu vorzüglichem Wein verwandelte.
Doch selbst ein großer Heiliger kann in den Zwiespalt zwischen Demut und Gehorsam geraten. Einmal erkrankte er so schwer, dass ihm der Tolentiner Arzt als stärkende Mahlzeit ein paar knusprig gebratene Rebhühner verordnete. Nicola hätte liebend gerne heroisch verzichtet aus Gründen der Askese, doch diesem Ansinnen stand die Weisung seines Priors entgegen, der ihm kurzerhand befahl, gefälligst alles bis auf das letzte Flügelchen aufzuessen. Nicola gehorchte stets und immer, wie sein Oberer wusste, dem letztlich an der Gesundheit seines Schützlings mehr gelegen war als an dessen spirituellen Obsessionen.
Nicola blickte auf den Teller, von dem es appetitanregend duftete, wendete dann den Blick gen Himmel und bat dringend darum, entsagen zu dürfen. Nach göttlicher Logik konnte es nur einen einzigen Ausweg aus dieser Zwickmühle geben, der Nicola einerseits nicht des Ungehorsams schuldig machte und andererseits seine Bußübungen torpedierte: Die Rebhühner wurden wieder lebendig, werden zutiefst verwirrt ihr kerrick-kerrick gekrächzt und sich dann Flügel schlagend in die Lüfte erhoben haben.
Wir dürfen vermuten, dass die heilige Muttergottes diese Auflösung zwar als äußerst elegant empfand, aber hinsichtlich des Gesundheitszustandes ihres Schützlinges nicht hinreichend wirkmächtig. Darum wies sie ihn in einer Vision an, frisch gebackenes Brot in Wasser zu tauchen und davon zu essen. Und Nicola genas auf der Stelle.
Noch heute werden Nikolaus-Brötchen im Heiligtum gesegnet. Man taucht sie in Wasser und betet ein Vater Unsere, Ave Maria und Ehre sei dem Vater, bevor man sie zu sich nimmt.

Der Gebäudekomplex des Heiligtums besteht aus der Basilika mit ihrer prächtig vergoldeten Kassettendecke, der Sakramentenkapelle aus dem 17. Jahrhundert und dem Glockenturm. Daneben befindet sich das romanische Meisterwerk des um 1210 erbauten Kreuzganges mit herrlichem Glyzinien-Bewuchs, mit den Eingängen zu den Mönchszellen. Parallel zu Chor und Apsis der Basilika liegt die Kapelle der hl. Arme, in der 450 Jahre lang die Arme des Heiligen verehrt wurden, die irgendein Wahnsinniger vom Körper abgetrennt hatte. Bei wichtigen kirchlichen Ereignissen begannen diese auch prompt zu bluten. Heute liegt der komplette – wieder aufgefundene – Leichnam des Heiligen in der unterirdischen Krypta aus dem 19. Jahrhundert in einem vergitterten Glassarg.
Das ganze Ensemble ist von großer kunsthistorischer Bedeutung, doch die capellone genannte Große Kapelle mit den gotischen Kreuzgewölben ist ein wahres Kleinod: Decke und Wände sind mit farbenprächtig leuchtenden Fresken aus der Giotto-Schule bedeckt, wie wir sie aus der Basilika in Assisi kennen. Das Gewölbekreuz ist mit Darstellungen der Evangelisten und Kirchenväter geschmückt, die Wände zeigen Episoden aus dem Leben Jesu Christi, der heiligen Jungfrau und dreizehn Szenen aus der Vita des heiligen Nikolaus von Tolentino mitsamt seinen Aufsehen erregendsten Wundertaten: der Auferweckung des Mädchens Filippa aus Fermo von den Toten, die Rettung Schiffbrüchiger, eines zu Unrecht Verurteilten und Erhängten; auf dem Sterbebett umgeben von Engeln und Heiligen – als sein Todestag gilt der 10. September 1305.
In der Mitte des Raumes steht der Steinsarkophag aus dem Jahre 1474, in dem seine Reliquien bis zu seiner Umbettung in die moderne Krypta aufbewahrt wurden, darauf eine Statue (um 1460), wie er, im Mönchsgewand, in der einen Hand ein Buch hält und in der anderen einen Stern mit einem lachenden Kindergesicht.
Für einen Besuch der Basilika des heiligen Nikolaus in Tolentino sollte man sich viel Zeit nehmen, denn neben den Kunstschätzen und den Reliquien beherbergt das Heiligtum auch verschiedene interessante Sammlungen, wie etwa die einzigartigen Votivtafeln – die ältesten stammen noch aus dem 14. Jahrhundert – eine Keramik- und Gemäldesammlung, Paramente und Brokate sowie eine Krippensammlung. Auf keinen Fall sollte man die Diorama-Schau im Untergeschoß versäumen, in der in zahlreichen detailverliebten und bezaubernd ausgeschmückten Guckkästen das Leben und Wirken des Heiligen nacherzählt wird.
Die Anrufung des heiligen Nikolaus von Tolentino empfiehlt sich vor allem Eltern für ihre Kinder und Enkel, für Menschen, die sich im Kampf gegen das Böse bewähren müssen und für die Verstorbenen und die Armen Seelen. Für den Besuch des Heiligtums am Sonntag nach dem 10. September kann man nach Anordnung von Papst Bonifatius IX. aus dem Jahr 1400 einen vollständigen Ablass gewinnen.
Unabhängig davon wirkt unser Nicola unermüdlich und bis zum heutigen Tage noch Wunder. Und wer ihn an einem stillen Frühlings- oder Herbstabend besucht, sieht vielleicht sogar seinen lächelnden Stern über der Basilika stehen.
Heiligtum der Basilika des Hl. Nikolaus, 62029 Tolentino (MC), Italien
Zwischen 12 und 15 Uhr geschlossen wegen Mittagsruhe.
http://www.sannicoladatolentino.it

September 10, 2014   No Comments

Das entflammte Herz – Die Ewigkeit als Maß

Die geistliche Liebe zwischen dem Fürstbischof von Genf, Franz von Sales und Baronin Johanna Franziska von Chantal darf man wohl als eine der innigsten und inspiriertesten – dabei vollständig reinen – Verbindungen bezeichnen, welche die katholische Kirche kennt. Sie führte im Juni 1610 zur Gründung der Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, kurz Salesianerinnen genannt, die heute, mehr als vierhundert Jahre später, mit über 150 Klöstern auf vier Kontinenten vertreten ist und wiederum Heilige wie Margareta Maria Alacoque sowie Selige wie Mutter Gabriele de Hinojosa und ihre Gefährtinnen, die Sieben Märtyrerinnen von Madrid in der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, hervorbrachte.

Zu einer ersten Begegnung zwischen Franz von Sales und der Baronin von Chantal kam es in der vorösterlichen Zeit des Jahres 1604 in Dijon. Franz ist zu dieser Zeit 36 Jahre alt und seit zehn Jahren als Priester und Seelsorger tätig, seit knapp zwei Jahren Bischof von Genf mit Amtssitz in Annecy. Anlässlich einer Fastenpredigt weilte er in Dijon, wo ihn sein Amtskollege, der Erzbischof von Bourges, seiner Schwester Johanna Franziska vorstellte.
Beide sollen einander in Visionen bereits vor diesem ersten, wirklichen Treffen, gesehen und sich sogleich erkannt haben. Wenige Tage später, am 26. April 1604, schreibt Franz einen ersten, äußerst kurzen, aber inhaltsschweren Brief: „Gott, so scheint es mir, hat mich Ihnen gegeben; dies wird mir mit jeder Stunde mehr zur Gewissheit. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen vermag. Empfehlen Sie mich Ihrem Schutzengel.“
Mit diesen knappen Zeilen beginnt ein wunderschöner Briefwechsel, der nicht nur die katholische Kirche, sondern auch die französische Literaturgeschichte bereichert hat.

Franz von Sales, am 21. August 1567 auf Burg Sales als erstes von zwölf Kindern zur Welt gekommen, durchlitt während seiner Studienjahre am Pariser Kolleg eine furchtbare Glaubenskrise, die ihn zuletzt auch körperlich erkranken ließ: Er war mit der calvinistischen Lehre von der Vorherbestimmung in Berührung gekommen, nach der bereits von Ewigkeit her durch Gott entschieden sei, wer unabänderlich zur Verdammnis bestimmt sei und wer nicht. Der Gedanke beschäftigte ihn intensiv. Schließlich wurde er derart von der Vorstellung beherrscht, er selbst gehöre von Anbeginn der Zeit an zu den Verdammten, dass sich die Verzweiflung seiner Seele auch körperlich manifestierte. Nach einigen Wochen der Krankheit wusste sich der kaum Zwanzigjährige nicht mehr anders zu helfen, der Zenit seiner Angst und Depression war überschritten: Mit äußerster Anstrengung und unter Aufbietung all seiner verbliebenen Kräfte schleppte er sich in eine nahe gelegene Kirche, wo er sich mit einem Memorare an die Jungfrau Maria wendet, einem Gebet der ebenso flehentlichen wie vertrauensvollen Zufluchtnahme zur „Mutter des Wortes“. Franz überwindet seine Krise, in dem er sich mit absoluter Unbedingtheit unter dem Schutzmantel Mariens in die Arme des gütigen, barmherzigen Gottes wirft, der die Liebe ist. Ihm übergibt, ihm weiht er an Ort und Stelle, in der Kirche St. Etienne de Gres, sein gesamtes Leben.
Es ist nicht zuletzt wohl dieser Begebenheit seiner Jugendzeit zuzuschreiben, dass er später so erfolgreich im Kampf gegen die calvinistischen Irrlehrer vorgehen kann, die im Chamblais-Gebiet des Bistums Genf fast die gesamte Bevölkerung für sich gewonnen hatten. Franz nahm kurz nach seiner Priesterweihe 1593 die Rückeroberung des Chamblais für die heilige Mutter Kirche in Angriff und nutzte dafür eines der ersten Massenkommunikationsmittel überhaupt – das Flugblatt. Mit seinen im wahrsten Sinne aufklärerischen Worten über die wahre, liebevolle Natur Gottes, seinem authentischen Stil der Warmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit, der sich nie zum Pamphletisieren herablässt, kann er in nur vier Jahren die gesamte abgefallene Region für die Kirche zurückgewinnen. Insbesondere durch diese beherzte und innovative Tat empfahl er sich geradezu als Schutzpatron der katholischen Journalisten.

Baronin von Chantal ist zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung mit von Sales seit vier Jahren verwitwet. Ihr Ehemann, mit dem sie sehr glücklich war und dem sie sechs Kinder gebar, von denen allerdings zwei sehr jung verstarben, kam im Jahre 1600 bei einem tragischen Jagdunfall zu Tode. In ihrem tiefen Schmerz wandte sie sich Gott zu, sie wollte ganz nach seinem Willen leben. Doch wie diesen Willen erkennen? Sie wendet sich einem Seelenführer zu, dem sie verschiedene Gelöbnisse macht, unter anderem etwa, sich niemals einen anderen geistlichen Führer zu suchen. Doch nun steht da die erste Begegnung mit Priester und Bischof, in dessen Seele sie sich erkennt, der sie, unter Berufung auf den göttlichen Willen, als eine Gabe, ein Geschenk betrachtet und daran keine Zweifel aufkommen lässt. Denn Johanna Franziska ist zunächst sehr ängstlich und voller Skrupel, weil sie sich bereits an einen geistlichen Vater gebunden sieht und ihm sozusagen die Treue gelobt hat. Zunächst muss also diese Sache geklärt werden – Franz geht sowohl mit seelsorgerlicher Umsicht wie auch mit freundlicher Diplomatie vor, immer im klaren Bewusstsein, dem Willen Gottes zu gehorchen. Im gleichen Jahr kommt es zu einer zweiten persönlichen Begegnung zwischen den beiden anlässlich einer Wallfahrt nach Saint Claude. Er schreibt: „Ich habe die ganze Nacht auf Ihre Angelegenheit verwendet. Ich sehe, es ist der Wille Gottes, dass ich die Leitung Ihrer Seele übernehme und Sie meinen Weisungen folgen. Diese vier Gelübde [Anm: an den vorherigen Seelenführer] taugen zu nichts, als Ihren Seelenfrieden zu zerstören.“

Neben dem literarischen Genuss, den die Lektüre dieser Briefe an die Baronin bieten, ist es vor allem der geistliche Trost, den man darin vorfindet und noch heute jedem Seelsorger eine Anleitung und Hilfe bieten kann. Als Hauptthemen finden sich darin immer wieder: Freiheit, Demut, Vollkommenheit und Ermutigung zur Geduld im Tragen des Kreuzes. Die Gewissensbisse und Ängste wegen – eingebildeter oder tatsächlicher – Versuchungen, denen sich Johanna Franziska bis zur unerträglichen Pein ausgesetzt sieht, lindert er durch schlichte, aber einsichtige Worte: Die Versuchung und die Freude an der Sünde kämen vom Teufel, Leid und Qual deswegen aber schickt uns der barmherzige Gott, durch sie läutere er das Gold: „Verachten Sie die Versuchung, umfangen Sie die Prüfung!“

Von Sales ist sich von Anfang an völlig bewusst darüber, wie der Charakter seiner geistlichen Tochter beschaffen ist, als hätte er sie tatsächlich schon längst gekannt, und nicht erst vor ein paar Monaten zum ersten Mal gesehen. Ihr asketischer Eifer braucht eher Mäßigung denn Ansporn, ihr übertriebenes Pflichtbewusstsein, ihr innerer seelischer Scharfrichter, der sie beständig zu verurteilen scheint, braucht mehr Milde – und sollte eigentlich am Besten in den Ruhestand versetzt werden. So schreibt dieser hochbegabte Seelenführer also: „Wenn Sie Gehorsam und Unterordnung sehr lieben, ist es mein Wunsch, – dies soll für Sie eine Art Gehorsam sein – dass Sie aus einem berechtigten Grund oder aus Nächstenliebe Ihre Übungen unterlassen und diese Unterlassung durch die Liebe ausgleichen.“

Immer wieder preist er ihren Witwenstand, rät ihr dazu, zunächst darin zu verbleiben, anstatt sich in ein Kloster zurückzuziehen. Nicht nur Erbauliches findet sich in diesen Briefen an die Baronin, auch kleine Anekdoten über seine Erlebnisse, Gespräche über ihre Kinder, Beschreibungen von Unwettern und Unglücksfällen, die ihn besonders beschäftigen – und immer wieder das Eingeständnis seiner Armseligkeit und die Bitte um Gebet.
Aus Juli 1605 stammt eine mit besonderem Feingefühl und geistlicher Umsicht geschriebene Empfehlung auf Johannas Anfrage, wie sie demjenigen gegenübertreten solle, der damals den Unfalltod ihres Mannes verursacht habe. Mit Verweis auf die Schmerzen Jesu beim Anblick des toten Lazarus, rät er ihr nachdrücklich, eine Begegnung mit diesem Unglücklichen nicht ausdrücklich zu suchen. Sollte sich eine ergeben, so solle sie trotz ihrer aufsteigenden Schmerzen und Qualen ein gütiges, liebenswürdiges und mitfühlendes Herz mitbringen, um zu bezeugen, dass sie alles in Liebe annehme, sogar den Tod ihres Mannes. Er schließt mit einem bezaubernden Bild: „Gott befohlen, meine Tochter; bleiben Sie in Frieden, stellen Sie sich auf die Fußspitzen und strecken Sie sich weit dem Himmel entgegen!“

Ohne dass Franz das Thema weiter auszubreiten sucht, finden wir auch immer wieder in seinen Briefen an die geistliche Tochter poetische Formulierungen, die seine Liebe zu ihr ausdrücken sollen – eine „Zuneigung, weißer als der Schnee und reiner als die Sonne“. So schreibt er am 1. November 1604: „Ich schenke Sie selbst, Ihr Witwenherz und Ihre Kinder alle Tage dem Herrn, wenn ich ihm seinen Sohn darbringe. Beten Sie für mich, meine liebe Tochter, damit wir uns einst mit allen Heiligen im Himmel wiedersehen. Mein Wunsch, Sie zu lieben und von Ihnen geliebt zu werden, hat kein geringeres Maß als die Ewigkeit.“

Und diese tiefe Zuneigung brachte reiche geistliche Frucht hervor. Am 6. Juni 1610 gründete Franz von Sales, gemeinsam mit Johanna Franziska, die Ordensgemeinschaft der Schwestern von der Heimsuchung Mariens, im deutschen Sprachraum auch Salesianerinnen genannt. Er erfüllte damit seiner geistlichen Tochter gleichzeitig einen großen Wunsch, nämlich ihr Leben nach einer Ordensregel zu führen. Aus der Hand ihres spirituellen Mentors nimmt sie den Habit entgegen, vor seinen Augen und Ohren legt sie ihre Ordensgelübde ab. Sie ist nun fast am Ziel ihrer Wünsche. Nur eine – sehr exaltierte – Bitte erfüllt ihr der gute Gott nicht: Dass sie vor ihrem geliebten geistlichen Vater sterben möge. Am 28. Dezember 1622 stirbt Franz von Sales nach einem rastlosen, von der Hingabe und dem Dienst an anderen erfüllten Leben an den Folgen eines Schlaganfalls. Kurz zuvor hatte er Johanna Franziska noch mit diesen Worten gewürdigt: „Nur mit Hochachtung spreche ich von dieser durchaus heiligen Seele. Man kann nicht größeren Verstand mit tieferer Demut vereint sehen. Sie ist einfach und innig wie ein Kind, verbindet aber damit eine ernste und erhabene Urteilskraft. Sie ist eine große Seele, die für heilige Unternehmungen einen Mut beweist, der sonst ihrem Geschlecht nicht eigen ist. Mit einem Wort: Ich lese nie die Beschreibung Salomons von der vollkommenen Frau, ohne an die ehrwürdige Mutter Chantal zu denken.“
Es ist wohl auch seiner Umsicht zu verdanken, dass seine liebe Tochter und geistliche Mutter, als die er sie sehr wohl auch ansah, nicht spirituell verwaiste: Kein geringerer als der heilige Vinzenz von Paul wurde danach ihr engster Vertrauter. Sie stirbt am 13. Dezember 1641 in Moulins. Am selben Abend sieht der heilige Vinzenz eine kleine, feurig-glühende Kugel ins Firmament aufsteigen. Und der Himmel öffnet sich. Ein etwas größerer Feuerball kommt ihr entgegen und beide vereinen sich, um weiter hinaufzusteigen, bis sie außer Sichtweite sind. Wenig später erreicht ihn die Nachricht vom Tode Johannas. Da erst begreift er, was er an diesem Abend sah: Wie Franz von Sales’ Seele der Seele seiner Liebsten entgegenkam, um sie in die himmlische Heimstatt zu führen. Der Rest dieser wunderbaren Geschichte ist schnell erzählt.

Mutter Chantal wird am 21. August 1751 selig gesprochen, am 16. August 1767 heilig.
Von Sales wird von Papst Alexander VII. 1661 zuerst selig, vier Jahre später heilig gesprochen. Am 19. Juli 1877 erhebt Pius IX. ihn zum Kirchenlehrer.
Dies geschieht noch zu Lebzeiten eines berühmten deutschen Philosophen, der nicht nur formulierte, dass Gott tot sei, sondern auch von der Lust sprach, die tiefe, tiefe Ewigkeit wolle. Vielleicht hätte er sich eingehender mit dieser einzigartigen, sublimen Liebesgeschichte beschäftigen sollen. Dann hätte er womöglich erkannt, dass sich die Lust immer nur nach der Ewigkeit ausstrecken, sie aber niemals erreichen kann. Alleine die Liebe, die wie „Tau vom Himmel kommt“, in der zwei Herzen gemeinsam auf Gott blicken, kann dieses ungeheuerliche Maß voll ausschöpfen. Oder, mit den Worten des heiligen Franz von Sales an seine geistliche Gefährtin: Mein Wunsch, Sie zu lieben und von Ihnen geliebt zu werden, hat kein geringeres Maß als die Ewigkeit.

[zuerst erschienen im Vatican-Magazin Juli 2013]

Januar 23, 2014   2 Comments