Vorwort zu Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“
>> Niemandem wird geholfen, wenn die Regierung so lange wartet, bis die Menschen demonstrieren und streiken. All dem könnte man sehr gut durch sachlichen Dialog und durch den guten Willen, auch kritische Stimmen anzuhören, vorbeugen. Solchen Stimmen wurde kein Gehör geschenkt. So erntet die heutige Staatsmacht die Saat ihrer eigenen starren Haltung …
Ich hoffe immer noch, dass die Staatsmacht aufhört, sich wie das hässliche Mädchen zu verhalten, das den Spiegel zerschlägt, in der Meinung, er sei Schuld an ihrem Aussehen.
Václav Havel, 21. Februar 1989<<
Selten ein altes Buch aufgeschlagen und auf der ersten Seite schon einen solchen aktuellen Volltreffer vorgesetzt bekommen …
Übrigens habe ich Urgestein tatsächlich nur zehn Monate danach in Prag seine Antrittsrede gehört und ihn gesehen. Aber bald mehr dazu. Nur noch so viel: Wir haben auf dem Wenzelsplatz und dem Altstädter Ring getanzt und Bohemia-Sekt aus der Flasche gesoffen. Dabei Ať žije Havel! skandiert: Es lebe Havel oder auch Hoch lebe Havel. Und wir haben die Kerzen und Blumenberge gesehen: Die Samtene Revolution war so samten nicht, es gab etliche Todesopfer, in der ganzen Prager Innenstadt gab es dazu Stellen, ja richtige Hügelchen aus Kerzen und Blumen und Bildern.
Manchmal denke ich, das interessiert heute niemanden mehr.
3 comments
Ja, das Zitat ist ein richtiger Volltreffer.
Es gibt noch mehr Volltreffer von Havel. Was er und Romano Guardini gemeinsam haben, darüber demnächst mehr
In seinem Essay „Politik und Gewissen“ (1984) beschreibt Havel, wie er als kleiner Junge über einen Feldweg zur Schule in das nahegelegene Dorf geht. Dabei sieht er den großen Schornstein einer eilig erbauten Fabrik, aus der dichter brauner Rauch quillt und sich über den blauen Himmel verteilt. Dies beleidigt zutiefst das ästhetische Empfinden des Kindes und der kleine Vaclav hat das intensive Gefühl, dass es etwas höchst Ungehöriges sei, dass die Menschen den Himmel so beschmutzen. Havel hatte damals noch keine Gedanken an schädliche Emissionen, sondern er beschreibt eine viel tiefer gehende persönliche Erfahrung. Der kleine Junge war wie die Menschen des Mittelalters noch in einer „natürlichen Welt“ verankert, einer Welt, die ihren „Morgen und ihren Abend“ hat, ihr „Unten“ (die Erde) und ihr „Oben“ ( den Himmel) , eine Welt, „in der die Begriffe Heimat und Fremde, Gut und Böse, Schönheit und Hässlichkeit, Nähe und Ferne“ etwas sehr Lebendiges und Bestimmtes bedeuten, eine Welt, die den Charakter des Geheimnisses hat. diese Lebenswelt, so Havel, „birgt in sich von ihrem Wesen selbst her die Annahme des Absoluten, das sie begründet und begrenzt, beseelt und lenkt, ohne das sie undenkbar, absurd und überflüssig wäre und das uns nur still zu respektieren bleibt.“ Das „Verschwinden des Horizontes des Absoluten“ in der modernen technischen Zivilisation nennt Havel später die Krise der menschlichen Identität. Von dieser frühen Erfahrung lässt sich das gesamte weitere Leben Havels verstehen.
Danke, Monika, für diesen klugen und hochintessanten Kommentar!
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